Schlaflos

Wort zum Tage
Schlaflos
16.03.2015 - 06:23
30.03.2015
Pastor i.R. Diederich Lüken

Die Dunkelheit der Nacht fällt mir schwer auf die Seele. Morgen früh werde ich wieder kein Auge zugetan haben. So jedenfalls beschreibt eine viel benutzte Redewendung die schlaflose Nacht. Natürlich habe ich doch ein Auge zugetan; ich habe sogar beide Augen zugetan, manchmal habe ich sie geradezu zugedrückt. Und dann habe ich sie wieder geöffnet, weil es offensichtlich keinen Zweck hatte, sie zu schließen – ich schlafe immer noch nicht. Und so stiere ich offenen Auges ins Dunkle. Ich probiere Einschlaftechniken aus.

 

Ein alter Freund verriet mir, wie er das macht, wenn er nicht schlafen kann. Er zählt alle Schriftsteller dem Alphabet nach auf, die er kennt: Achternbusch, Andersch, Benn, Brecht, Borchert, Böll, jetzt wird’s schon schwieriger, wer fängt denn mit C an, ach ja, Canetti, Paul Celan, jetzt aber E, nein erst D: Max Dauthendey, Henriette Davidis, ach nein, die war ja nur Kochbuchautorin, egal, jetzt E – und so weiter, bis Stefan Zweig.

 

Es hat nichts geholfen. Dann mache ich das Licht an, um zu sehen, wie spät es wirklich ist – welch ein Glück, erst drei Uhr, ich habe also, warte mal, noch vier Stunden Schlaf, bis der Wecker klingelt. Ich schließe die Augen, drehe mich zur andern Seite, vergeblich. Ich zähle Komponisten auf. Als ich bei Winfried Zillig angekommen bin, schaue ich wieder auf die Uhr: Es packt mich leichte Panik, schon fünf Uhr, noch ganze zwei Stunden, die ich schlafen kann; das gibt ja morgen wieder einen müden Tag, na, gratuliere! Das Aufzählen von irgendwelchen Leuten kannst du dir also auch schenken, sage ich mir; bei dir nützt es nichts! Im Gegenteil. Und die quälende Prozedur fängt von vorne an: Augen schließen, auf die andere Seite drehen, warten, bis der Schlaf sich einstellt.

 

Ich schrecke wieder auf, nein, da war nichts, ich habe es mir nur eingebildet. Will denn die Nacht gar nicht enden? Doch, sie endet. Durch die Jalousien kommt das erste Frühlicht. Ich atme erlöst auf. Endlich ist die Nacht vorbei, ein neuer Tag beginnt. Zwar werde ich nicht völlig bei Kräften sein; aber es ist Tag, und das Tageslicht ist tröstlich. Im hellen Licht des Morgens greife ich nach meinem Losungsbüchlein, das für jeden Tag zwei biblische Sprüche enthält. Ich lese: „Meine Seele wartet auf den Herrn mehr als die Wächter auf den Morgen; mehr als die Wächter auf den Morgen hoffe Israel auf den HERRN! Denn bei dem HERRN ist die Gnade und viel Erlösung bei ihm“ (Psalm 130,6-7). So leibhaftig und direkt habe ich selten einen Bibelspruch verstanden wie diesen nach einer unfreiwillig durchwachten Nacht.

30.03.2015
Pastor i.R. Diederich Lüken