Sowas wie normal

Wort zum Tage
Sowas wie normal
12.05.2015 - 06:23
30.03.2015
Pastorin Anja Neu-Illg

Sehnsucht heißt: Ga-a -guim. Die Schnellhefter liegen auf dem Kaffeehaustisch. Ein älteres Paar wiederholt die Hebräisch-Vokabeln der letzten Lektion. Ga-a-guim – Sehnsucht.

 

Ich esse Mezze: Humus, Tabouleh und Israelischen Salat. Ich hätte auch Goldene Joich mit Kneidlach haben können oder Falafel. Neben mir auf dem Regal: ein siebenarmiger Leuchter – eine Menora. Vor mir zusammengerollt – eine jüdische Wochenzeitung. Gegenüber, vor der jüdischen Grundschule: viele Roller und kleine Fahrräder. Ich bin nicht in Tel Aviv, sondern mitten in Hamburg. Im Jahr 2015. Es gibt wieder jüdisches Leben im Hamburger Grindelviertel. Fast schon sowas wie normal. Neulich wurde ein Freund auf der Straße angesprochen: Sind sie Jude? Einfach so. Sind sie Jude? So als würde man eben einen Passanten fragen: Wissen sie, wo das Kino ist? Der Freund war so perplex, dass er nur nein sagen und gar nichts weiter fragen konnte.

 

Im Grindelviertel gibt es einen jüdischen Kultursalon – etwas verborgen in einem Hinterhof. Plakattext: „Wenn sie uns nicht finden können, verfolgen sie doch einfach einen Juden.“ Es wird. Besser. Sowas wie normal. In jedem Fall entspannter.

 

50 Jahre deutsch-israelische Beziehungen. Als „besonders“ werden diese Beziehungen immer wieder bezeichnet. Besonders werden sie auch bleiben. Nie ganz normal. Nur „sowas wie“ normal. Wer von deutsch-israelischen Beziehungen spricht, kommt nicht vorbei an Deportation und Shoa, Schuld und Scham, Tätern und Opfern, Vernichtung und Verantwortung.

 

Auch das Grindelviertel in Hamburg zeugt von dem Leben, das hier einmal war und nicht mehr zurückzuholen ist. Direkt neben der Uni der Platz der jüdischen Deportierten. Neben der jüdischen Grundschule ein Bodenmosaik: Nur noch die Umrisse der einst größten Synagoge Norddeutschlands. 1938 verwüstet. 1939 abgerissen. Katzen und Kinder laufen heute da, wo früher der Thoraschrein stand. Und fast überall auf den Gehwegen „Stolpersteine“. Schaut man hin, dann sieht man Namen, Geburtsjahre, Deportationsjahre, Schicksale. Dieser Mensch hat gelebt. Genau hier. Was nicht auf den Steinen steht: Welche Welt uns verloren gegangen ist. Was dieser Levi für einen Beruf gelernt, was er studiert hätte, wen er geliebt hätte. Was diese Judith geträumt hat und welche Gedichte sie im Sinn hatte. Manchmal versuche ich zu blinzeln und mir das Leben hier im Grindelviertel vorzustellen, ohne Abbruch. Aber es klappt nicht. Nur ahnen kann man die verlorene Welt.

 

Deutsch-israelische Beziehungen: Besonders und doch auf dem Weg zu sowas wie normal. Das bedeutet, dass man in Israel längst wieder auch positiv von Deutschen redet. Auch, dass hier die Kritik an israelischer Politik nicht prinzipiell ausgeschlossen ist. Jüdisches Leben im Grindelviertel: Immer besonders und doch auf dem Weg zu sowas wie normal. Vielleicht geht’s ja eines Tages sogar ohne Polizeischutz vor der jüdischen Schule. Sehnsucht heißt: Ga-a -guim.

30.03.2015
Pastorin Anja Neu-Illg