Unwiderstehlich nah

Wort zum Tage
Unwiderstehlich nah
11.06.2016 - 06:23
11.01.2016
Pfarrer Thomas C. Müller

Zwei Dutzend Jugendliche sind kurz vor ihrer Konfirmation noch einmal zu einer Freizeit aufgebrochen. Zum Abschluss des Tages finden sie sich in einer Kirche zusammen. Es ist bereits dunkel geworden, eine warme Frühlingsnacht hat begonnen. Inmitten der dunklen Kirche wird eine Kerze entzündet. Es ist eine große Taufkerze. Man erkennt sie an der Taube, die im Lichtschein zu sehen ist. Die Konfirmanden werden gebeten, sich in der Entfernung zur Kerze aufzustellen, die ihrer gefühlten innere Nähe oder Distanz zu Gott entspricht. Die Jugendlichen setzen sich in Bewegung und testen den Abstand, der für sie richtig ist. Die einen kommen ganz nah heran, andere bleiben in einiger Entfernung, wieder andere verdrücken sich in die hinterste Ecke, um zu zeigen: Eigentlich möchte ich damit nichts zu tun haben. Manche verändern mehrmals ihre Position, bleiben erst weiter entfernt stehen, kommen dann später näher heran. Oder umgekehrt.

Nicht nur jugendliche Menschen tun sich schwer, ihre Nähe oder Distanz zu Gott zu bestimmen. Wie nah wir uns Gott fühlen oder wie weit entfernt, kann sich im Laufe eines Lebens verändern. Nicht wenige sind innerlich zerrissen. Da gibt es durchaus den Wunsch nach Nähe zu Gott, aber da gibt es auch Vorbehalte und die Angst, solche Nähe könnte die eigene Freiheit und Selbstständigkeit gefährden. Andere hätten sich wohl gewünscht, Gottes Nähe zu spüren; haben aber den Eindruck gehabt, dass Gott in den schwierigen Augenblick des Lebens weit weg war.

 

In jener warmen Frühlingsnacht erklangen in der dunklen, nur von der Taufkerze erhellten Kirche, die Worte eines alten Gebetes, Worte aus dem 139. Psalm:

„Nähme ich Flügel der Morgenröte

und bliebe am äußersten Meer,

so würde auch dort deine Hand mich führen

und deine Rechte mich halten.

Spräche ich: Finsternis möge mich decken

und Nacht statt Licht um mich sein –,

so wäre auch Finsternis nicht finster bei dir,

und die Nacht leuchtete wie der Tag. Finsternis ist wie das Licht.

 

Der Dichter des Psalms kennt offenbar Phasen des Lebens, in denen Gott weit weg ist. Seine Worte lassen erkennen, dass er etwas von den Situationen weiß, in denen einem jeder Trost abhandenkommt, in denen es absolut dunkel scheint. Aber er weiß: auch diese finsteren Momente fallen nicht aus der Nähe Gottes heraus. Das verborgene Licht leuchtet, auch dann, wenn ich es nicht sehe und nicht fühle.

Ich bin sicher, manche der Jugendlichen in der dunklen Kirche ahnten in dieser Nacht, dass Gott ihnen nah bleibt, egal wie nah oder wie weit weg sie selbst sich von der Taufkerze aufgestellt hatten. Das Licht der Kerze jedenfalls leuchtete auch bis hinein in den hintersten Winkel.

11.01.2016
Pfarrer Thomas C. Müller