Vergebung verändert die Welt

Wort zum Tage
Vergebung verändert die Welt
14.10.2016 - 06:23
14.10.2016
Pfarrerin Christina-Maria Bammel

Worte, die zu Handlungen werden, verändern womöglich die Welt, wie etwa eine  bahnbrechende Idee oder eine einzige Entscheidung. Mit einer solchen Veränderung der Welt verbinde ich den Namen Joseph. Er ist der erste Mensch der Bibel, von dem ausdrücklich gesagt wird, dass er  vergeben hat, und zwar seinen eigenen Brüdern. Das Drama um seine Person spielt in Israel und Ägypten vor einigen tausend Jahren. Joseph wurde von seinen Brüdern nach einem misslungenen Mordkomplott ins Ausland verkauft.  Dort wird er schließlich ein erfolgreicher und einflussreicher Mann. Nach Jahren stehen seine Brüder wieder vor ihm. Sie bitten um Vergebung. Da weint Joseph, denn  innerlich hat er ihnen schon vergeben. Rache, Wut, Bitterkeit machen seiner Seele nicht mehr zu schaffen,  als er jetzt seinen Brüdern in die Augen sieht. Es  ist nicht einfach nur „Gras über die Sache gewachsen“;  Es  geschieht viel mehr als das: Vergebung. Es ist richtig, was darüber gesagt wird: wenn wir vergeben, sind wir nicht länger die Opfer, die Gefangenen unserer Geschichte und Geschichten. Aber Vergebung lässt sich nicht einfach automatisch herstellen oder irgendwie „antrainieren“. Nein, Joseph lässt seine Brüder einen eigenen Erkenntnisprozess durchlaufen. Sie werden gelehrt, ihre eigene Schuld zu sehen, sie  zu benennen und zu bereuen und ihr Verhalten zu ändern. Joseph beteiligt sie gewissermaßen daran, dass er als einst Geschädigter  jetzt ausdrücklich vergeben kann.
Seit Josephs Drama haben die Blut- und Opferspuren der Menschheitsgeschichte immer wieder daran zweifeln lassen, ob Vergebung möglich ist.
Heute vor 110 Jahren wurde Hannah Arendt geboren. Schon in den Kinderjahren stellt die Mutter des Mädchens fest, Hannah habe eine ausgesprochen heftige Liebe zu Büchern und Buchstaben. Die Mutter spricht von einer intellektuellen Frühreife. Das hält sich durch. Aber der Nationalsozialismus und die Hetze auf Juden lassen  Hannah Arendt aus Deutschland und Europa fliehen. Sie wird eine Paria, wie sie später einmal selbst sagt: Eine Fremde, hinzugekommen und dabei doch wie ausgestoßen, so erlebt sie ihr eigenes Schicksal in den USA. In den sechziger Jahren begleitet sie den Prozess gegen den Massenmörder Eichmann als Journalistin für den New Yorker. Für Arendt ist es erst die Vergebung, die alles politische Handeln von den Folgen seiner Verstrickung losmacht. Allerdings kann in ihrer Sicht nur das vergeben werden, was auch bestrafbar ist.  Das radikal Böse lässt sich  in diesem Sinn nicht bestrafen und ist für Arendt somit  von einer Vergebung ausgeschlossen. Ja, vergeben können, hat  Grenzen. Wo aber Vergebung geschehen kann, schafft sie Raum für eine neue Qualität  und eine neue Beziehung. Hannah Arendt nennt es das Wunder der Entbindung. Es verändert die Welt.

14.10.2016
Pfarrerin Christina-Maria Bammel