Versuchungen: Im Andern den Menschen nicht sehen

Wort zum Tage
Versuchungen: Im Andern den Menschen nicht sehen
28.04.2016 - 06:23
11.01.2016
Pfarrerin Angelika Obert

„Wann beginnt der Tag?“ Das fragt ein Rabbi seine Schüler. Einer vermutet: „Der Tag beginnt, wenn man einen Pflaumenbaum von einem Pfirsichbaum unterscheiden kann.“ Der Rabbi schüttelt den Kopf. Nun versucht es ein zweiter Schüler: „Wenn man einen Esel von einem Hund unterscheiden kann.“ Wieder verneint der Rabbi. „Dann sag es uns doch!“ drängen die Schüler. Und der Rabbi sagt: „Die Nacht hört auf, wenn du in ein menschliches Gesicht schaust und es wird heller Tag, wenn du in diesem Gesicht deinen Bruder oder deine Schwester erkennst.“ So erzählt es eine chassidische Geschichte, die ich schon lange kenne. Fast zu bekannt kommt sie mir vor, um sie noch einmal zu zitieren. Doch  in der letzten Zeit ist sie mir wieder  drängend in den Sinn gekommen. Wahrscheinlich, weil ich den Eindruck habe, dass es  nächtlicher wird in vielen Gesprächen. Denn man kann die Geschichte doch auch umkehren und fragen: Wann beginnt die Nacht? Und dann würde die Antwort lauten: Wenn du einen Menschen nicht mehr als Mitmenschen erkennst.

 

Auch das ist eine große Versuchung, eine Falle, in die man ganz leicht tappen kann. In einem gewissen Dämmer leben wir ja wohl immer, was die Andern betrifft – sehr schnell bereit, diejenigen, die nicht zu unserer Gruppe gehören, nur als formlose Menge wahrzunehmen – die Politiker oder die Sozialhilfeempfänger oder wen auch immer. Und jetzt also ganz besonders „die Flüchtlinge“ oder „die Muslime“. Von fern gesehen eine gesichtslose Menge. Von Nahem würde man sie wohl als Menschen erkennen. Aber Viele wollen sie ja nicht nah haben. Aus der Ferne kann man sich so allerhand denken: Sind diese vielen jungen Männer nicht alles Leute, die ihre Familien im Stich gelassen haben?  Wollen sie nicht bloß die deutsche Wohlfahrt ausnutzen? Sind sie nicht kriminell?  Wer sich in solche Überlegungen einspinnt, für den ist es schnell ausgemacht: Menschen in unserm Sinne sind das nicht. Also darf man sie auch weghaben wollen.

 

Mir wird immer ganz schwindelig, wenn ich mir überlege, dass es überall in der Welt Menschen geben muss, die uns als Angehörige der sogenannten westlichen Welt genauso  nachtschwarz als gesichtslose Masse wahrnehmen. Dass sie uns alle möglichen schlechten Eigenschaften unterstellen, die Manche von uns sogar wirklich haben – dass sie sich erzählen, wir seien alle miteinander zuchtlos, maßlos, verwöhnt und egoman, Bombenwerfer und Ausbeuter, was natürlich überhaupt nicht stimmt. Da kommt Zorn auf. Was sind das nur für verblendete Leute, die uns in unserer ganz normalen Menschlichkeit nicht sehen! Die Frage gilt aber auch umgekehrt: Was bin ich denn für ein Mensch, wenn ich den Andern in seiner ganz normalen Menschlichkeit nicht sehe?

11.01.2016
Pfarrerin Angelika Obert