Von der Kunst des Zweifels

Wort zum Tage
Von der Kunst des Zweifels
07.11.2019 - 06:20
29.08.2019
Christina-Maria Bammel
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Bevor er abgetragen wurde, Stück für Stück, thronten für einige Zeit auf dem Berliner Palast der Republik sieben Buchstaben. Weit zu sehen am Abend und in der Nacht. Die Buchstaben ergaben das Wort Zweifel. Nur dieses eine Wort. Zweifel – woran? Das ließ der norwegische Künstler in dieser Installation offen. Immer, wenn ich im Vorübergehen die leuchtenden Buchstaben sah, spürte ich einen winzigen Moment von Dankbarkeit: Wie gut, hier und jetzt zu leben in einer Stadt, in einem Land, wo ein solches Wort auf einem Gebäude der Macht sitzt. Undenkbar wäre zwei Jahrzehnte zuvor dieses Wort am Palast der Republik gewesen – dem viel zu teuer erkauften Konstrukt aus angeblicher Volksnähe und tatsächlicher Machtdekadenz. Zu deutlich hätte das Wort Zweifel seine subversive Kraft auf die Fassaden von betonierter Herrschaft und Hierarchie geworfen. Je enger die Verhältnisse, je angstbesetzter die Machthaber, desto explosiver ein einzelnes Wort, wie etwa Freiheit, Mut, eben auch Zweifel. Der Gebrauch dieser Worte konnte Menschen von der Straße weg in Haft bringen. Woran wir zweifeln, persönlich oder politisch, wandelt sich im Lauf der Zeit. Manche bezweifelten die Erklärungen für den Abriss des Palastes. Manche Ostdeutsche zweifelten schon länger daran, ob in zehn, fünfzehn oder fünfzig Jahren noch irgendetwas von der Spur ihres Lebens erkennbar sein würde. Würden sie in diesem neuen Land überhaupt gebraucht? Zählen sie noch? Was gilt das Bisherige? Der Zweifel gehört zum Denken. Gebt dem Zweifel Raum. Drückt ihn nicht tot. Daran muss man sich hin und wieder erinnern lassen. Zweifel brachte die Menschen vor 30 Jahren schon seit Wochen auf die Straße. Mit dem Zweifel war schon lange der Unmut gekommen und hatte auch Platz gemacht für neue Sehnsucht, neue Ideen. Am Ende konnte kein angeblicher Volkspalast, konnte keine Mauer den Zweifel der denkenden Menschen auf immer einbetonieren. Wer zweifelt, trägt eine kostbare Gabe in sich. Zum Beispiel auch die Freunde Jesu, die, als sie dem auferstandenen Jesus begegnen, zweifeln. Jesus lässt das zu, gibt dem Zweifel Raum. Er weiß: Sture Lippenbekenntnisse halten manchmal nur bis zum nächsten Hahnenschrei. Die allzu Sicheren knicken am schnellsten weg. Die zweifelnden Jünger vor Augen hoffe ich, dass Gott mir gerade in meinen Zweifeln nachgeht. Ich bitte darum, dass mir das rechte Vertrauen und das kritische Zweifeln zur rechten Zeit die Sinne wachhält, und zwar für das, was um mich herum in diesem Land geschieht.

 

Es gilt das gesprochene Wort.

29.08.2019
Christina-Maria Bammel