Was der Mensch ist

Wort zum Tage
Was der Mensch ist
13.02.2018 - 06:20
10.01.2018
Evamaria Bohle
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Die Wissenschaft hat festgestellt: Der Mensch besteht zum größten Teil aus Wasser. Die gern genannte Zahl von 70 Prozent ist dabei nur ein Richtwert. Es kommt auf das Alter an, auf Geschlecht, Muskelmasse und noch mehr. Was ist der Mensch? Haut und Knochen und viel Wasser? Und dann sind da noch die Geschichten, die sich rund um dieses Wasserwesen gesponnen haben. Um jedes Einzelne von uns. Um Luzie M. zum Beispiel: geboren 1928, Jungmädel, ausgebombt, Trümmerkind, Wirtschaftswunderwesen. Mutter, Großmutter, Urgroßmutter. Verwitwet. Alleinlebend. Freiheitsliebend.

 

Was ist der Mensch? In Luzies Fall: Runzeln und Falten, schmerzende polyarthritische Gelenke und immer wieder zu viel Wasser in den Beinen. Und natürlich all die Geschichten: die erzählten, die nie erzählten, die vergessenen, die nie vergessenen. All die Lebensneugier, Lebenstrauer, Lebenslust. Das klopfende, stolpernde Herz und die unstillbare Sehnsucht nach Frühling. Wie noch in jedem Winter. Es ist der neunzigste Winter für Luzie. „Noch nicht, lieber Gott“, sagt sie leise.

 

Und wenn sie nachts nicht schlafen kann, singt Luzie im Bett alle Lieder, die sie kennt. Ihre Hörgeräte liegen auf dem Nachttisch, und Luzie singt mit dünner Stimme aus voller Seele. Und dann steht sie auf, schlurft in die Küche, trinkt kalten Tee vom Abendbrot, nascht aus dem Kühlschrank. Dunkel ist die Nacht vor den Fenstern. Alles schläft, einsam wacht. Die Fotos der Kinder, der Enkel und Urenkelkinder. Auf dem Rollator glänzt das Nachtlicht im Flur.

 

Was ist der Mensch? 70 Prozent Wasser, Haut und Knochen, Geschichten und Lieder und Atmen können. Gefühle bis zum Hals über Kopf. Träumen. Lieben. Noch singen wollen nach neun Jahrzehnten, das ist der Mensch. Luzie summt. Sie lächelt. Ob es noch einen Mai geben wird? Vielleicht ja, vielleicht nein. Vielleicht ist ein Hoffnungswort.

Die Wissenschaft hat festgestellt: Der Mensch bleibt ein Rätsel. Wasser, Haut und Knochen, Geschichten, Lieder und Hoffnung. Nachher wird Luzie M. gewissenhaft überprüfen, ob sie ihre Medikamente schon alle genommen hat. Was sie dagegen nie vergisst: Sonnenblumenkerne auf die Fensterbank zu streuen. Für Amsel, Drossel, Fink und Star. „Die hungern doch sonst“, sagt Luzie und humpelt in die Küche. Die Gelenke schmerzen. Vielleicht ist der Mensch ein Ebenbild Gottes. Vielleicht ist ein Hoffungswort.

10.01.2018
Evamaria Bohle