Was ist schon Zeit

Wort zum Tage
Was ist schon Zeit
16.04.2016 - 06:23
11.01.2016
Pfarrer Michael Becker

Wie seltsam dieses Haus ist. Überall gibt es Uhren. Gleich am Eingang an der Pforte, dann in der Küche. Die große Standuhr steht im Aufenthaltsraum. Auf jedem Stockwerk ist auch alles voller Uhren. Mal an der Wand, mal auf dem Tisch oder im Fernsehgerät. Kaum dreht man den Kopf, sieht man schon wieder auf eine Uhr. Im Büro sind gleich drei davon. Und alle gehen falsch, Tatsache. Jede zeigt eine andere Zeit. Mal ein paar Minuten vor oder zurück, mal eine halbe Stunde, oder, wie beim Backofen, gleich viele Stunden. Die Standuhr schlägt zu unmöglichen Zeiten. Und das im Altenheim. So etwas verwirrt doch nur, denke ich. Kein Mensch kennt noch die richtige Zeit. Ein Kalenderblatt im Flur zeigt sogar den falschen Monat. Wer soll sich da noch zurechtfinden.

 

Soll man vielleicht gar nicht, denke ich. Das alles könnte ja Absicht sein. Was ist schon Zeit. Immer diese Uhren; am Handgelenk, in der Küche, im Bad. Jede Wohnung soll im Schnitt sieben davon haben. Manch eine tickt auch noch; hörbar. Überall Zahlen oder Zeiger. Aber was zeigen die schon. Dass Zeit vergeht? Nein, Zeit vergeht nicht. Wir vergehen. Das müssen wir nicht zählen, das wissen wir auch ohne Uhr. Immer messen wir die Zeit, haben genaue Uhren, sogar Funkuhren. Als hätten wir die Zeit im Griff. Haben wir aber gar nicht. Eher greift sie nach uns.

 

Wir sind aber keine Knechte der Uhr. Niemals. Auch wenn wir uns so fühlen. Wir sind frei. Was immer diese oder jene Uhr uns zeigt – wir sind mächtiger. Und dürfen selbst bestimmen, was uns die Stunde schlägt. Scheint die Sonne, gehen wir einfach mal raus und genießen sie. Und uns gleich mit. Regnet es, erledigen wir etwas oder erholen uns oder besuchen einen Freund. Uhren sind oft wie Peitschen, mit denen wir uns antreiben. Aber wohin? Immer diese Hast, die Unruhe. Dabei ist so vieles nichtig. Wir vergehen, auch ohne das zu messen. Die Uhr muss das nicht zeigen, das tut Gott schon. Bei ihm ist Uhrzeit kein Maß für nichts. Gott ist alle Zeit der Welt. In seinen Händen liegt sie. Von Ewigkeit zu Ewigkeit. Gott braucht keine Uhr, um uns Rastlose an der Hand zu halten. Ganz fest tut er das, hier – und dort. Wo endlich keine Uhren mehr sind.

11.01.2016
Pfarrer Michael Becker