Weniger ist kostbar I

Wort zum Tage
Weniger ist kostbar I
16.12.2020 - 06:20
13.12.2020
Julia Rittner-Kopp
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Mein Lebensberater ist über 60 Jahre alt. Er ist ein bisschen angeschlagen und wacklig - und nicht ganz 14 Zentimeter hoch. Er ist weiß, das Blau oben ist abgeblättert, am Rand Rostspuren, am Henkel auch. Mein Lebensberater ist ein Halblitermaß, ein alter Email-Becher. Meine Mutter hat zeitlebens ihr Kaffeewasser mit ihm abgemessen. Sie wollte ja nie zu viel Wasser kochen. Immer nur die Menge, die sie brauchte, nicht mehr. Ich fand das früher spießig und übertrieben. Heute nicht mehr.  Heute schau ich liebevoll und mit Respekt auf genau dieses Halblitermaß. Jeden Tag hat sie es in der Hand gehalten, gefüllt, ausgeleert und wieder zurück in den Schrank gestellt. Über 60 Jahre lang. Sie hat es nie durch ein neues ersetzt, es war ja noch gut genug.

Es ist bloß ein alter, abgestoßener Becher. Aber durch tausend Berührungen und Bilder in meinem Kopf kostbar.

Im Herbst vor zwei Jahren haben meine Schwestern und ich die Wohnung unserer Mutter ausgeräumt. Da war viel drin. Ich bin durch die Wohnung gegangen wie durch mein Leben. Die alte Wärmflasche gegen mein Bauchweh, die Pendeluhr, die gestärkten Tischtücher, die mehrfach gestopfte Wolldecke, das Silberbesteck für Festtage, die Kiste mit dem Schuhputzzeug. Tausenderlei Sachen und kein Ende. Wir haben aufgeteilt, verteilt, verschenkt.  Und plötzlich hatte ich eine Erleuchtung: Ich nehme nur diesen einen alten Becher mit.

Mehr nicht. Wunderbar!

Wäre es so gewesen.

Als mein Mann und ich dann durch die Nacht nach Hause gefahren sind, war der Transporter, den wir gemietet hatten, voll bis zum Rand. Ich weiß, es ist zu viel. Weniger wäre besser.

Der alte Becher steht seitdem auf der Fensterbank vor meinem Schreibtisch. Er ist von allem das kostbarste. Und jedes Jahr in der Adventszeit fülle ich ihn mit Wasser und stecke ein paar kleine Tannenzweige rein und eine Kerze davor. Eine. Mehr nicht. Weil weniger mehr ist. 

Wie zum Beispiel auch beim traditionellen Weihnachtsessen von unseren Freunden. Die machen seit über 20 Jahren an Heiligabend immer Picknick im Wohnzimmer. Dann sitzen sie allesamt auf dem Fußboden, auf Teppichen und Decken. Es gibt keine Weihnachtsgans. Sondern etwas, das auch Maria und Josef vermutlich gegessen haben: Fladenbrot, Früchte, Humus… Ihre Kinder wussten jahrelang nichts von anderen deutschen Weihnachtsessen… Inzwischen sind sie groß, erwachsen. Aber wenn sie an Heiligabend kommen, wollen sie es genau so und nicht anders.  Weil weniger so kostbar ist.

Es gilt das gesprochene Wort.

13.12.2020
Julia Rittner-Kopp