Wurzeln und Flügel

Wort zum Tage
Wurzeln und Flügel
17.09.2016 - 06:23
07.09.2016
Pfarrerin Angelika Scholte-Reh

Ich stehe an der Brüstung über dem Tal und sehe in die Weite. Der Weg hierher war anstrengend und ich genieße es, durchzuatmen und die Frische der Luft in meinen Lungen zu spüren. Unter mir breitet sich jetzt die Landschaft aus: der Mischwald mit den hohen Bäumen, dahinter Felder und Wiesen und mitten darin ein Dorf. Die Häuser scharen sich um den weit aufragenden Kirchturm wie Küken um eine Klucke, einige ganz nah, andere weiter weg. Am Horizont erhebt sich der nächste Höhenzug, etwas wolkenverhangen, an diesem klaren Tag gut sichtbar. Der Wind weht durch mein Haar, die Sonne wärmt meine Haut. Mir ist, als könnte ich meine Arme ausbreiten und über die Landschaft schweben. Wie weit weg von hier oben die Alltagssorgen sind! Alle Enge und alles Kleinliche fällt mit jedem Atemzug mehr von mir ab. In mir wird es still, erwartungsvolle Leere und belebende Ruhe. Solche Momente, in denen mein Ich weit offen ist, kenne ich auch aus dem Gebet. Wenn ich alle Sorgen gesagt, alle Lasten bei Gott abgelegt habe und still werde, dann fühlt es sich an, als würden meiner Seele Flügel wachsen.

 

Der Autor Lothar Zenetti schreibt:

„Manchmal, in seltenen Stunden, spürst du auf einmal nahe dem Herzen, am Schulterblatt schmerzlich die Stelle, an der uns, wie man erzählt, vor Zeiten ein Flügel bestimmt war, den wir verloren. Manchmal regt sich dann etwas in dir, ein Verlangen, wie soll ich’s erklären, ein unwiderstehliches Streben, leichter und freier zu leben und dich zu erheben und hoch über allem zu schweben. Manchmal, nur einen Augenblick lang – dann ist es vorbei – erkennst du dein wahres Gesicht, du ahnst, wer du sein könntest und solltest. Dann ist es vorbei. Und du bist, wie du bist. Du tust, was zu tun ist. Und du vergisst.“[1]

 

Vorschein der Ewigkeit und Blick in den Himmel, so verstehe ich diese Erfahrungen von Weite. Eines Tages, wenn unsere Seele sich aus der Erdenschwere unseres Körpers löst, dann wird sie ihre Flügel ausspannen und auffliegen zu Gott, in eine neue Weise des Seins übergehen.

Manchmal, nur einen Augenblick lang – treten die scheinbaren Notwendigkeiten des Alltags zurück. Da rücken sich dann die Perspektiven zurecht. Und dann ist es vorbei – ich spüre meine Wurzeln, komme wieder im Leben an, tue, was notwendig ist, gestalte den Tag, der vor mir liegt, genieße die Vielfalt all dessen, was das Leben prägt, die Menschen, die Gemeinschaft, die Aufgaben, die mein Leben erfüllen. Dies ist der Tag, der nun vor mir liegt, und ich will ihn aus ganzem Herzen gestalten, einen Fuß vor den anderen setzen und das Leben mit Gutem füllen.

Und ich nehme sie mit, die Sehnsucht nach Weite, das Wissen darum, wie viel weiter und größer die Welt ist, und mein Gefühl, dem Vorschein der Ewigkeit begegnet zu sein.

 

[1] Lothar Zenetti, Auf seiner Spur, Ostfildern 2011, S 82

07.09.2016
Pfarrerin Angelika Scholte-Reh