Zeitintelligenz

Wort zum Tage
Zeitintelligenz
06.11.2017 - 06:20
01.11.2017
Pfarrerin Johanna Friese
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Verspätet sich der Zug, gehe ich den Bahnsteig auf und ab. Schaue unruhig auf die Uhr und rechne nach. Zwei, fünf, zehn Minuten. Als ob ich etwas ändern könnte. Auch zu Hause: Oft meine ich, mein Computer reagiere zu langsam. Immer wieder klicke ich, wenn das Bild sich nicht schnell genug aufbaut. Als ob ich etwas ändern könnte. In der Warteschlange starre ich auf die Kassiererin, die viel zu langsam die Lebensmittel über den Scanner zieht, und dann will auch noch ein Kunde etwas reklamieren. Da wechsle ich lieber zur anderen Kasse. Überall soll es heute schnell gehen, möglichst ohne Wartezeiten. Eben auch bei mir. Längst haben wir uns daran gewöhnt, kleine Ziele sofort zu erreichen, ohne uns groß anstrengen zu müssen. Aber für langfristige Ziele ist das kein guter Plan. Sie brauchen einfach Zeit; erfordern strategische Geduld.

 

Ich lasse mir Zeit! – Ich bin geduldig. Das kann ich mir jeden Tag neu sagen. Bei kurzen Wartezeiten genauso wie bei größeren Vorhaben. Jede Sportart, jedes Musikinstrument, jede neue Fremdsprache, auch ein dickes Buch – all das erfordert Geduld. Und Geduld ist Übungssache. Vielleicht denken Sie: Ich habe mir schon so oft vorgenommen, endlich geduldiger zu werden, aber es geht einfach nicht.

 

Als Kind war das bei mir anders. Da gab es die langen Sonntagnachmittage, an denen nichts passierte. Weil draußen keiner zum Spielen war. Dann saß ich am Fenster und sah den Regentropfen beim Fallen zu. Einfach so. Wir können es doch: das Nichtstun zulassen. Aushalten, was schwierig ist oder geduldig ertragen, was wir nicht ändern können.

 

Die ersten Christen waren sogar auf Geduld angewiesen, um zu überleben. Denn sie wurden massiv angefeindet und hatten es schwer mit ihrem Glauben. Der Apostel Paulus erinnerte sie daran, wer geduldig ist, bekommt irgendwann neue Kraft und eine andere Blickrichtung. Er schrieb in seinem Brief an die Menschen in Rom: „Wir wissen, dass Bedrängnis Geduld bringt, Geduld aber Bewährung. Bewährung aber Hoffnung.“ (Römer 5,3-5)

 

Offenbar hat Geduld immer auch mit ertragen zu tun, aber vor allem bedeutet es Ausdauer, Selbstkontrolle und Frustrationstoleranz. Deshalb bringt uns eine geduldige Lebenshaltung weiter. Damals wie heute. Sagen wir doch statt Geduld vielleicht lieber „Zeitintelligenz“. Ein guter Vorschlag, finde ich. Er stammt von der amerikanischen Kunsthistorikerin Jennifer Roberts

(Psychologie heute, August 2017, 22). Ihre Studenten sollen sich ein Kunstwerk erst drei Stunden lang geduldig anschauen, bevor sie es deuten und etwas darüber lernen.

 

Und so ist es: Zeitintelligenz bringt oft geschenkte Zeit, um etwas zu entdecken, das vorher verborgen war.

01.11.2017
Pfarrerin Johanna Friese