Zeuge der Anklage

Wort zum Tage
Zeuge der Anklage
12.05.2017 - 06:20
07.05.2017
Pfarrer Rainer Stuhlmann

An Karfreitag war Jesus das Opfer. An Ostern ist ihm Gerechtigkeit widerfahren. So hat sich Gott als Anwalt der Opfer erwiesen. Der Anwalt der Opfer ist zugleich der Ankläger der Täter und Täterinnen. Das ist die Kehrseite der Parteilichkeit Gottes. „Höret, alle Völker! Gott, der HERR, tritt gegen euch als Zeuge auf.“ (Micha 1,2) So sieht der Prophet Micha Gott in der Rolle eines Zeugen der Anklage.

 

Zur Rechenschaft gezogen werden hier die nicht-jüdischen Völker. Das ist Israel zum Trost gesagt, wenn es unter den Völkern leidet. Dass Gott zum Zeugen der Anklage wird gegen die, die sich an seinem Volk vergreifen, das hat Jüdinnen und Juden durch die Jahrhunderte getröstet und gestärkt. Diese Botschaft hat ihnen Kraft gegeben, sowohl dem Leiden zu widerstehen, soweit es möglich war, als auch es auszuhalten, wenn es unvermeidbar war.

 

Was dem Volk Israel zum Trost gesagt ist, lässt mich gespannt aufmerken. Ich bin kein Jude. Kann es sein, dass Gott gegen mich als Zeuge auftritt? Gegen mich als jemanden aus den nicht-jüdischen Völkern? Setzt Gott mich unversehens auf die Anklagebank? Womöglich In Sachen „Antisemitismus“? Da sitze ich vielleicht nicht als Täter, aber möglicherweise als Mitläufer oder Weggucker, angeklagt wegen unterlassener Hilfeleistung?

 

Manchmal kommt der Antisemitismus im frommen Gewand daher. Wenn Christen z. B. Juden missionieren, sie zu Christen machen wollen. Die Überzeugung „Nur ein getaufter Jude ist ein guter Jude“ hat fast zweitausend Jahre das Christentum beherrscht.

 

Auch Edward Elgars Oratorium „The Kingdom“, das 1906 uraufgeführt wurde, ist leider von dieser Überzeugung bestimmt. Es hat den Antisemitismus gefördert, der in seiner Zeit in England wie in Deutschland hoffähig war. Und wenn das Oratorium heute aufgeführt wird, wie demnächst am Pfingstmontag in Köln, muss auf diese Gefahr aufmerksam gemacht werden.

 

Wie gut, dass die Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland im vorigen Jahr ein unmissverständliches und klares Nein zu jeder Form der Judenmission gesprochen hat. Es kann unsere Augen und Ohren auch für die versteckten Formen des Antisemitismus schärfen. Bert Brecht hat recht: „Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch.“

 

Wer die Sorge angesichts eines wachsenden Antisemitismus auch in unserem Land für übertrieben hält, der schaue genauer hin; und sehe zu, dass er nicht unversehens auf der Anklagebank landet, auf der niemand Geringeres als Zeuge der Anklage gegen ihn auftritt als der lebendige Gott.

07.05.2017
Pfarrer Rainer Stuhlmann