Zwei für eins

Wort zum Tage
Zwei für eins
04.02.2017 - 06:23
03.02.2017
Pfarrer Hannes Langbein

„Ich sehe was, was Du nicht siehst! - und das ist blau!“ – „Ich sehe was, was Du nicht siehst – und das ist grün!“ – „Ich sehe zwei im Raum schwebende Balken, einen vertikalen und einen horizontalen“ – „Und ich sehe ein Kreuz...“

„Ich sehe was, was Du nicht siehst“ in einer Kirche spielen... – In der Berliner St. Matthäus-Kirche macht das  besonderen Spaß. Denn dort ist von Zeit zu Zeit ein Altarkreuz der Berliner Künstlerin Sibylle Wagner zu sehen, das von jedem Punkt des Kirchenraumes aus anders aussieht: Wer es von den Seiten des Kirchenraumes aus betrachtet, der sieht zwei über dem Altar schwebende grünlich schimmernde Balken, die einander kaum berühren. Wer es aber von der Mitte des Raumes her betrachtet, der hat ein bläulich schimmerndes Kreuz vor Augen... – „Zwei für eins“ heißt das Altarbild, weil es aus zwei Plexiglasbalken gemacht ist, die so beschaffen und so weit hintereinander aufgehängt sind, dass sich ihre Position und ihre Färbung für den Betrachter verändert, je nach dem an welcher Stelle des Raumes er sich befindet.

Der mittelalterliche Theologe Nikolaus von Kues experimentierte im 15. Jahrhundert mit einer ähnlichen und doch signifikant anderen Situation, um sich die Allgegenwart Gottes vorzustellen: Nikolaus ließ eine Gruppe von Mönchen in einem Kloster am Tegernsee um eine Christusikone herum aufstellen und vor dem Bild auf und abgehen. Nach einer Weile fragte er die Brüder was jeder von ihnen sähe – und obwohl sich jeder von ihnen an einem anderen Ort des Raumes befand, fühlte sich jeder einzelne durch das Christusbild angesehen. Jeder der Brüder hatte an jedem Ort des Raumes dieselbe Perspektive auf das Bild – für Nikolaus ein Sinnbild der Allgegenwart Gottes, die an jedem Ort der Welt gleich ist.

In der Berliner St. Matthäus-Kirche ist es genau andersherum. Hier ändert sich die Perspektive der Betrachter auf das Altarbild mit jedem einzelnen Schritt. Jeder Betrachter hat an jedem Ort des Raumes eine andere Perspektive auf das Altarbild. Das Kreuz von Sibylle Wagner ist ein Kreuz in Bewegung. Und als solches weniger ein Bild der Allgegenwart als vielmehr ein Bild der Vielgestaltigkeit Gottes: Gott zeigt sich für jeden Menschen anders, je nach dem wo er oder sie steht und je nach dem was für einen Blick er oder sie einnimmt. Dennoch ist und bleibt er der eine Gott, der sich nicht ohne die Standorte und Blickwinkel der Menschen suchen und finden lassen will...

03.02.2017
Pfarrer Hannes Langbein