Einwanderung und Arbeitsmarkt: Fremd im eigenen Land?

Einwanderung und Arbeitsmarkt: Fremd im eigenen Land?
12.09.2010 - 21:30
Bischof July: Muslime gehören zu uns

Einwanderer und deren Kinder sind doppelt so häufig arbeitslos wie die übrige Bevölkerung. Und doppelt so häufig haben sie keinen Berufsabschluss. Woran liegt das? Liegt es an den Eingewanderten selbst, oder ist die deutsche Gesellschaft so verschlossen? Darüber diskutierten in der bis auf den letzten Platz gefüllten hannoverschen Marktkirche mit Fernsehpastor Jan Dieckmann der württembergische Bischof Frank July, der niedersächsische Innenminister Uwe Schünemann (CDU), die Autorin und Islamkritikerin Necla Kelek und die Bundestagsabgeordnete der Linken, Sevim Dagdelen.

Thilo Sarrazins Buch „Deutschland schafft sich ab" hat ein Erdbeben ausgelöst. Tut das Deutschland gut?

Uwe Schünemann: Wir haben dieses Buch nicht gebraucht, um über Integration zu reden. Herr Sarrazin war Vorstandsmitglied der Bundesbank, er hätte besser ein Buch darüber geschrieben, wie wir aus der Finanzkrise kommen. In der Integration haben wir kein Erkenntnisproblem, wir müssen handeln. 

Necla Kelek: Ich habe gemeinsam mit Thilo Sarrazin sein Buch vorgestellt. Wie darauf reagiert wurde, zeigt gerade, dass vorher eben kein Buch so deutlich Probleme bei der Integration benannt hat. Gerade die Verknüpfung von Integrationspolitik, Bildungspolitik und Sozialpolitik macht dieses Buch aus, weil diese Aspekte zusammenhängen. Und dieses Buch verdeutlicht wie kein anderes: Wenn wir über Integration sprechen, müssen wir über die Muslime sprechen, mit ihnen gibt es die größten Probleme bei der Integration.

Nützt oder schadet der Wirbel um dieses Buch der Integration?

Sevim Dagdelen: Er schadet der Integration. Herr Schünemann hat Recht, ich hätte mir von einem Bundesbankvorstand auch eher ein Buch über Geldpolitik gewünscht…

…hätte aber vielleicht keiner gekauft!

Dagdelen: Das sagt etwas über die Gesellschaft aus, nach der größten Finanzkrise, die wir seit 80 Jahren hatten. Wir brauchen kein Buch, das an gefährlichen Themen wie der Rassenhygiene anknüpft. Wir brauchen kein Buch, das letztendlich nur auf Vorurteile und Vorbehalte setzt und sie pseudowissenschaftlich versucht zu bestätigen. Das zielt auf eine Abspaltung, aber nicht auf eine Lösung der gesellschaftlichen Probleme, die wir zweifellos haben.

Bischof Frank July: Es gibt eine Reihe von Büchern, auch Denkschriften der Evangelischen Kirche in Deutschland, die Probleme mit der Integration angesprochen haben. Es ist schade, dass es solch einer Provokation bedurft hat, dass diese Gesellschaft endlich öffentlich über Integration redet.

Einwanderer und deren Kinder sind doppelt so häufig arbeitslos wie die übrige Bevölkerung. Und doppelt so häufig haben sie keinen Berufsabschluss. Woran liegt das?

Kelek: Gerade die muslimischen Einwanderer haben Probleme, auf dem Arbeitsmarkt anzukommen und von der Arbeiterschaft in den Mittelstand aufzusteigen. Ich sehe einen Grund darin, dass die Einwandererfamilien genug in die Bildung ihrer eigenen Kinder investiert haben. Es ist schade, dass selbst nach Jahrzehnten der Einwanderung die Chancen, die Deutschland bietet, nicht wahrgenommen werden. 

Dagdelen: Nein, es liegt nicht an der Religionszugehörigkeit. Über die Hälfte der Eingewanderten, die in Deutschland leben, sind christlichen Glaubens. Nur 22 Prozent sind bekennende Muslime. Und es gibt nicht den einen Islam. Menschen, die aus dem Iran, aus dem Irak oder aus Afghanistan kommen, haben vielfach exzellente Berufs- und Bildungsabschlüsse. Und: Wir haben jahrzehntelang die Illusion gehabt, Deutschland sei kein Einwanderungsland. Nach der Anwerbung der Gastarbeiter hat man die Illusion genährt, diese Leute werden irgendwann gehen. Deshalb gab es Geldprämien für die Rückkehr, es gab keine Sprachförderung. Es gibt noch heute Arbeitsverbote für einige der Menschen, die aus dem Ausland zu uns kommen. Man hat zulange nicht Integration gefördert.

Die komplette Dokumentation finden Sie unter www.tacheles.tv.

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