Gottesdienst aus der St. Georgenkirche in Waren

St. Georgenkirche in Waren
Gottesdienst aus der St. Georgenkirche in Waren
03.04.2015 - 10:05
03.04.2015
Pastorin Anja Lünert

Predigt von Pastorin Anja Lünert

 

Wahrlich, wahrlich, er hat unsre Qual und Schmerzen getragen.

 

Georg Friedrich Händel hat die Worte des Jesaja im Messias vertont. In einer Situation, in der er sich selbst eigentlich am Ende seiner Musikerkariere sah, fasst er das Leiden in Musik. Musik, die gefällt.

 

Beides scheint sich zu widersprechen. Leiden, das gefällt? Wann hätte uns Leiden jemals gefallen? Nein Leiden ist nicht schön.

 

Als Pastorin höre ich das oft. Wenn Menschen ein Familienmitglied nach schwerem Leid begraben mussten. „Es war so schwer, zusehen zu müssen und nicht helfen zu können.“, sagte erste vor kurzem eine Frau zu mir. Wie viel Not steckt in so einem Satz? Die Müdigkeit stand noch in ihrem Gesicht. Fassungslos waren wir beide: Wie viel müssen manche Menschen auf ihrem letzten Weg durchmachen. Wer dabei sein muss, leidet mit. Nein, das ist nicht schön!

 

Kein Wunder, dass Menschen lieber wegblicken, wenn es geht. Wegblicken, wenn da ein menschliches Wrack mit Hund und Korn vor dem Supermarkt steht. Vorbeischauen an der Mutter mit ihrem schwer behinderten Kind. Lieber keinen Fuß ins Krankenhaus hinein setzten. Oder gegen den geplanten Bau eines Hospizes in der Nachbarschaft klagen. All das sind Symptome einer Gesellschaft, die das Leiden nicht sehen will, nicht ertragen kann.

 

Manchmal sehe ich auch hin und sehe innerlich gleichzeitig weg, wenn ich beispielsweise Sonntags den Fernseher anstelle. Krieg und Hunger. Ich sehe hin, auch beim Tatort, der gleich nach der Tagesschau kommt. Das ist weit weg, dieses Leiden. Auch nicht schön, sicher, aber weit weg.

 

Dann ist da noch die Angst, selber leiden zu müssen. Unter Krankheit. Unter Schmerzen. Unter Einsamkeit. Auch ich kenne sie. Vielleicht, dass mir im Leben oder im Sterben ein schwerer, allzu schwerer Weg zugemutet wird. Nein, das will ich nicht erleben. Denn das ist überhaupt nicht schön.

 

Leiden lädt nicht zum Hinsehen ein, und Krankheit nicht zum Verweilen. Dann die Fragen: Welchen Sinn hat das Leiden auf der Welt?

 

Eine Frage, die so alt sind, wie die Menschheit. Der Prophet Jesaja hat sie gekannt. Auch er hat über das Leiden geschrieben. Auch, was er damals schon beobachtet hat: wie schwer das Hinschauen ist.

 

Er hatte keine Gestalt und Hoheit. Wir sahen ihn, aber da war keine Gestalt, die uns gefallen hätte. Er war der Allerverachtetste und Unwerteste, voller Schmerzen und Krankheit.

 

Von wem der Prophet hier redet, ist nicht klar. Er nennt ihn „den Knecht“. Jesus hat sich wohl mit dieser Gestalt identifiziert und sein Leiden in einer Reihe mit dem Leiden jenes Knechtes gesehen. Auch die ersten Christen haben im Knecht den leidenden Christus erkannt. Sie haben hingesehen und entdeckt: es ist ja unser Leiden, um das es hier geht. Krankheit und Alter gehören zum Leben und am Ende werden wir sterben. Die Passionsgeschichte sagt: seht hin!

 

Hinsehen kann etwas besser machen auf dieser Welt. Kann etwas heil machen. Erkenntnis beginnt ja mit Hinsehen. Zum Beispiel, die Erkenntnis, dass nicht alles gut ist auf dieser Welt, dass Menschen im Leiden vereinsamen oder missachtet werden, oder die Erkenntnis, dass es mir möglich wäre, hier und da, Leiden zu lindern.

 

Händel hat die Worte über das Leiden des Knechtes in Musik, in Trost gegossen. Wer hinsieht und hinhört, in dem kann etwas heil werden.

 

 

Sie haben ihn festgenagelt. Endlich haben sie es geschafft. So oft schon haben sie versucht, ihn aufs Kreuz zu legen. Alles ist ordnungsgemäß verlaufen. Und während oben im Tempel die Passah-Lämmer für das Fest geschlachtet werden, hängt er am Balken. Gott hat nicht eingegriffen.

 

Liebe Gemeinde, so erzählt der Evangelist Johannes das Sterben Jesu. Eine bemerkenswert ruhige Szene malt er. Kein Geschrei, kein Gespött. Jesus lässt sich kreuzigen. Er erfüllt die Schrift. Er ist bereit gewesen. Vom Kreuz geht Ruhe aus. Johannes erzählt anders als die anderen Evangelisten. Jesus ist der König und bleibt es. Auch am Kreuz.

 

Aber diese erhabene Art, die Passion Jesu zu erzählen, darf uns nicht übersehen lassen, dass dieses Sterben am Kreuz höchster Schmerz war. Ein harter und grausamer Tod. Johannes will aber deutlich machen, dass dieser gepeitschte, verachtete und mit Dornen gekrönte Mann König im Reich Gottes ist. Was auf Golgatha geschieht, geschieht, weil er selbst sein JA dazu sagt, sich dazu hingibt.

 

Passion hat mit Hingabe zu tun. Wir benutzen das Wort, wenn ein Mensch eine Leidenschaft hat. Wenn ich eine Passion habe, ein Thema, das mein Lebensthema ist, dann werde ich ganz viel für diese Sache geben, vielleicht sogar alles.

 

So ist Gott. So ist Jesus. Seine Passion sind die Menschen. Für sie gibt er alles. Auch sich selbst. Er bringt das Opfer. Nicht, weil Gott das braucht. Gott braucht kein Blut. Nein, Jesus bringt das Opfer, weil wir es brauchen. Wir brauchen es, dass uns jemand so bis zum Letzten liebt. Weil unsere eigene Liebe so brüchig, verletzlich und endlich ist.

 

Darum ist Karfreitag so ein wichtiger Feiertag für mich als Christin. Obwohl es ein trauriger Feiertag ist. Chor, Orgel und Orchester machen wunderschöne Musik für uns. Der Gottesdienst nimmt uns nicht nur in das Leiden, sondern auch in den Trost mit hinein.

 

Denn es ist Trost, dass wir einen Gott haben, der sich selbst dem Leiden dieser Welt stellt. Der nicht irgendwo über uns schwebt und herrlich herrscht, sondern der auch die andere Seite kennt, die Schattenseite. Die Seite, die ich nicht gerne genauer betrachte.

 

Heute – am Karfreitag – sehe ich hin. Mit allem, was ich nicht verstehen kann. Während ich hinschaue, spüre ich, dass ich Trost brauche.

 

Aber Trost ist immer erst der zweite Schritt, der erste ist, das Schlimme anzunehmen. Karfreitag öffnet den Raum, Schmerz und Trauer zuzulassen. Wir dürfen weinen, wenn wir Grund haben zu weinen. Wir dürfen entsetzt und unfassbar erschüttert sein.

 

Ich bin erschüttert über die 150 toten Männer, Frauen und Kinder beim Flugzeugabsturz der Germanwings-Maschine.

 

Eine Schulklasse war in dem Flugzeug: 17 Kinder und zwei Lehrerinnen. Wie mag den Müttern und Vätern dieser Jugendlichen zu Mute sein: ein Kind zu verlieren? Ich kenne Eltern, die ein oder sogar mehrere Kinder begraben mussten. Alle haben mir dasselbe gesagt: „Das ist der schlimmste Schmerz, den es gibt.“ Dass ich das an mich heranlasse, das bedeutet für mich, Karfreitag unter das Kreuz zu treten.

 

Hier in der Georgenkirche in Waren können wir das Kreuz sehen. Hoch oben im Hauptschiff – über der Gemeinde – ein Kreuz aus dem frühen 16. Jahrhundert. Ein leidender Christus. Unter dem Kreuz Maria und Johannes. So wie es im Johannesevangelium erzählt ist.

 

Jesus weist sie aneinander – Maria und den Lieblingsjünger. Maria, die Mutter, die dasteht und ihren Jungen sterben sieht – ihren Erstgeborenen, den sie großgezogen hat und den sie liebt. Daneben der beste Freund, dem die Tränen aus den Augen laufen. Frau, siehe, dein Sohn! Siehe, deine Mutter! Der gegenseitige Halt ermöglicht es, weiterzuleben. Nur weil sie sich gegenseitig halten, schaffen sie es, Golgatha wieder zu verlassen, weiterzugehen – hin bis in das Licht des Ostermorgens. Die beiden stehen auch stellvertretend für uns. Ich denke, Jesus meint uns. Gebt Euch Halt!, sagt er uns vom Kreuz herab.

 

Unter dem Kreuz stehen noch andere Menschen: Pilatus wird erwähnt, die Hohepriester, die Soldaten und ihr Hauptmann. Jeder von ihnen verlässt Golgatha anders. Die einen hat das Kreuz Gott näher gebracht, die anderen verachten es und wenden ihm den Rücken zu.

 

Die Frage, wie es zwischen Gott und den Menschen steht, ist unter dem Kreuz nicht belanglos. Sie ist auch nicht unpersönlich allgemein. Wie steht es zwischen Gott und mir? Gibt es da in meinem Leben zu heilen oder zu vergeben? Brauche ich einen, der mich so sehr liebt?

 

Natürlich, auch ich will nicht, dass einer für meine Sünden – für mein Unvermögen – so sterben muss. Aber – ja – ich brauche jemanden, der mich so sehr liebt. Der seine freundlichen und segnenden Augen auf mir ruhen lässt, auch vom Kreuz herab noch. Auch dann, wenn ich selber die Liebe vergessen habe und gar nicht freundlich bin. Ich brauche diese Liebe ja gerade dann, wenn ich anderen Unrecht und Leid zugefügt, Täterin gewesen bin und versagt habe.

 

Ich brauche einen der meine Angst kennt. Die Angst vor eigenem Leiden und die Angst vor dem eigenen Sterben. Der mich in all dem nicht allein lässt, sondern mitgeht. Auf die andere Seite, dahin, wohin sonst niemand mitgehen kann.

 

Karfreitag darf mich froh machen. Es gibt den, der mitgeht, der mitgegangen ist, der immer wieder mitgehen wird – Nicht am Leid vorbei, sondern durch Leid und Tod hindurch ins Licht des Ostermorgens. Alles aus Liebe zu mir.

03.04.2015
Pastorin Anja Lünert