Freiräume
Generalsuperintendent Ralf Meister
16.10.2010 21:05

###f03###Diese Feder habe ich letzte Woche gefunden. Auf einem Feldweg im Linumer Bruch. Eine halbe Stunde nordwestlich von Berlin. Vielleicht ist es eine Wildgansfeder, denn in der Region Linumer Bruch sammeln sich in diesen Wochen zigtausende von Zugvögeln. Kraniche und Wildgänse ziehen abends von ihren Futterplätzen heran und lassen sich zum Übernachten an den Teichen nieder. In diesen Oktoberwochen sammeln sie die Kräfte für die weite Reise in den Süden. Aus Skandinavien, dem Baltikum und Russland sind sie gekommen, bald ziehen sie nach Südspanien oder Afrika weiter.

Für mich sind solche Vogelzüge schöne Sehnsuchtsbilder des Herbstes. Meist ziehen die Vögel nachts. Dann hört man das Schreien der Kraniche oder die Rufe der Wildgänse am Himmel. In grauen Formationen ziehen sie durch das Dunkel, ein fernes Ziel vor Augen.

Da beginne ich selbst zu träumen. So wie Nils Holgersson, der auf dem Rücken einer Gans quer durch Schweden flog. Ich träume von abenteuerlichen Reisen und von gewagten Flügen ins Unbekannte.
Ich stelle mir vor, wie es wäre, in weiten Räumen zu leben,
Ich stelle mir vor, ich könnte unterwegs sein – wie die Vögel – instinktsicher und von der Gemeinschaft geschützt.

Viele wünschen sich solche freien Räume und sehnen sich nach Aufbruch. Und dann geht es doch nicht: Die alten Gewohnheiten stehen dagegen, die Liebe zum Bewährten. Und gegenseitig bewachen wir uns, dass nur ja keiner zu hoch oder zu weit fliegt. Oft ist das auch in der Kirche so. Dazu gibt es eine provozierende Geschichte von Sören Kierkegaard. Einem dänischen Religionsphilosophen des 19. Jahrhunderts. Der war nicht so gut auf die Kirche zu sprechen und hatte manch kritischen Vergleich parat. Einer dieser Vergleiche erzählt von den Hausgänsen, die an jedem siebten Tag eine Parade hielten. Dabei hörten sie dann aufmerksam einem beredeten Gänserich zu, der auf einem Gatter stand. Der schnatterte über das Wunder der Gänse. Erzählte von den Taten der Vorfahren, die einst zu fliegen wagten und lobte die Barmherzigkeit des Schöpfers, der den Gänsen die Flügel und den Instinkt zum Fliegen gab. Die Gänse waren immer tief gerührt und senkten vor Ergriffenheit die Köpfe. Dann lobten sie die Predigt und den beredsamen Gänserich. Aber ... fliegen taten sie nicht. Denn das Korn war gut und der Hof war sicher.

Bei dem Zug der Vögel denke ich an diese Geschichte. Wie ernst nehmen wir unseren Glauben? Nutzen wir die Freiheit, die Flügel auszubreiten und zu fliegen? Sicherheiten aufzugeben und gewagt zu leben?

Gott hat uns versprochen, dass wir nicht abstürzen werden: "Und nähme ich Flügel der Morgenröte und bliebe am äußersten Meer, so würde auch dort deine Hand mich führen und deine Rechte mich halten" (Ps 139,9-10).