Spurensuche
Luthers Kirche im Jahr des Reformationsjubiläums
27.05.2017 10:00

 

 

Evangelische Weltkirche

Eine katholische Pfarrei aus Österreich bat darum, 95 Steine aus meiner Gemeinde zu erhalten. Das war nur eine der originellen Bitten, die uns hier erreichen. Denn wir sind in der Stadtkirche Wittenberg, die im Mittelpunkt des Reformationsjubiläums steht - als Martin Luthers Predigtkirche und als Mutterkirche der Reformation (www.stadtkirchengemeinde-wittenberg.de). Seit Jahren bereiten wir uns hier auf den Reformationssommer vor: mit einer umfassenden Sanierung der Stadtkirche und mit einem besonderen Programmangebot, das zu Gottesdiensten, Gebetszeiten, Konzerten, Vortragsveranstaltungen, Kirchenführungen, Kirchenpicknick und vielem anderen mehr einlädt. Unzählige Anfragen von Kirchengemeinden, Gastgruppen, Konzertagenturen und Veranstaltungsanbietern für 2017 mussten wir beraten und steuern. Angesichts der vielen Anfragen und Besucher erlebe ich in Wittenberg ein beeindruckendes Stück evangelische Weltkirche. Die Reformation ist eine Weltbürgerin und prägt viele Menschen und Länder. Die meisten Besucher kommen aus Deutschland, den Vereinigten Staaten von Amerika, der Schweiz, Skandinavien und den Niederlanden. Aber auch Touristen aus anderen Weltregionen wie Korea, Madagaskar oder Namibia suchen in Wittenberg ihre konfessionellen Wurzeln. Bischöfe, Botschafter und gekrönte Häupter wie die dänische Königin oder der schwedische König statten der Lutherstadt ihren Besuch ab. Die ganze Stadt rüstet sich für das große Festjahr. Es wurde gebaut, saniert und renoviert wie es seit den Zeiten der Kurfürsten im 16. Jahrhundert nicht mehr geschehen ist. Museen wurden vergrößert, Kirchen saniert, das Stadthaus und der Hauptbahnhof neu errichtet, Straßen und Plätze verschönert und Grünanlagen neu geschaffen. Eine gesamte Stadt stellt sich neu auf. Wittenberg ist im Jahr des Reformationsjubiläums eine kleine Weltstadt.

 

Eine Weltstadt am Rande der Zivilation

Bereits zur Zeit Martin Luthers ist Wittenberg eine Stadt von asymmetrischer Bedeutung gewesen. Denn von einer jungen Residenzstadt „am Rande der Zivilisation", wie Martin Luther seinerzeit bemerkte, geht eine weltweite Wirkung aus. Es wirkt nachgerade gegensätzlich, dass in einer kleinen, überschaubaren Stadt Weltgeschichte geschrieben wurde. Mit dieser Asymmetrie muss Wittenberg seitdem leben. Und eine weitere Asymmetrie ist hinzugekommen: Am Quell- und Traditionsort einer christlichen Konfession lebt die weit überwiegende Mehrheit der Bevölkerung konfessionsungebunden. Die Mehrheit lebt nicht mehr mit der Reformation, sondern allenfalls von der Reformation: als Hotelier, Stadtführerin, Gastronom oder Geschäftsinhaberin. Für viele Bewohner der Lutherstadt wird das Reformationsjubiläum einen ersten Kontakt überhaupt zur Kirche und zu ihren Themen ermöglichen. Die individuelle Freiheit von der Kirche scheint auch eines der Kinder der Reformation zu sein.

Antworten für die Gegenwart

Ich wünsche mir, dass Stichworte wie "Martin Luther" oder "Reformation" nicht nur Begriffe der Stadtgeschichte bleiben, sondern zu einem ideengeschichtlichen Sprungbrett für die Herausforderungen unserer Zeit werden. Angst, Gewissenstrost, Individualität, Reformen, Gerechtigkeit, Geld, Freiheit, Gewalt oder Geistesgegenwart sind Themen, die Martin Luther in die Welt getragen hat und die auch heute Menschen in der Familie, im Freundeskreis, im Beruf und in der Gesellschaft beschäftigen. Eine mögliche Fortsetzung der Reformation sehe ich zum Beispiel in dem Wunsch, dass alle Bürger Anspruch auf ein bedingungsloses Grundeinkommen erhalten. Was im 16. Jahrhundert geistig begonnen hat mit der reformatorischen Entdeckung der bedingungslosen Gnade, würde sich durch die Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens im 21. Jahrhundert materiell vollenden.

Solche und andere Zeichen kreativer Verwunderung sollen von der kleinen Stadt Wittenberg für alle Bewohner und Gäste ausgehen: wenn im Kleinen Großes begegnet, wenn das Unvollkommene vollendet wird, wenn das Krumme gerade wird, wenn der Verlorene erwählt wird - oder wie Gott in der Bibel verheißt: "Meine Kraft vollendet sich in der Schwachheit." Die Reformation wird gefeiert, wenn sie die Menschen daran erinnert, dass sich deren Kräfte aus einer unverhofften Quelle speisen.

 

Autoreninformation:
Johannes Block (1965) ist Pfarrer an der Stadtkirche Wittenberg und Privatdozent für Praktische Theologie an der Theologischen Fakultät der Universität Leipzig. Zu seinen Veröffentlichungen zählen Titel wie "Die Rede von der Sünde in der Predigt der Gegenwart. Eine Studie zur hamartologischen Homiletik am Beispiel von Predigten aus dem Internet", Zürich 2012, "Die wittenbergische Nachtigall. Luther im Gedicht", Leipzig 2013, oder "Wittenberger Worte. Wege mit dem Wort in Martin Luthers Stadt", Spröda 2017. Ein besonderes Anliegen für ihn ist die Spendenaktion am-tisch-mit-luther.de, bei der man sich mit einem Selfie an den Tisch mit Luther setzen kann und damit die Generalsanierung der Stadtkirche Wittenberg unterstützt.