Flüsse faszinieren. Sie haben lebensspendende und lebensbedrohliche Kraft. Darum spielen sie auch im christlichen Glauben eine wichtige Rolle. Ein Beitrag der evangelischen Kirche.
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Am Ufer eines Stroms kann man sich leicht wegträumen, in Gedanken mit den Schiffen mitfahren. Zugleich hat das Fließen des Wassers etwas Beruhigendes. Jeder Fluss öffnet die Landschaft, hat ein Tal gegraben, durch das er fließt. Jeder Fluss steht von der Quelle bis zur Mündung für Öffnung, für den Willen, vorwärts zu kommen, für Ausdauer, gewaltige Kraft und sanfte Energie. 
Ich wohne in Frankfurt nur ein paar hundert Meter entfernt vom Main. Während der Coronapandemie, im ersten und zweiten Lockdown, ging ich fast täglich ans Mainufer. Da stand ich, sah den Kähnen nach und genoss die Weite und das Dahinfließen des Wassers. Der Fluss war ein sichtbares und fühlbares Versprechen: Die Welt ist nicht aus den Fugen, die Pandemie wird vorübergehen. Das hat mich damals gefestigt und getröstet und tut es bis heute.
Flüsse prägen das Bild einer Landschaft und das Leben der Menschen, die an ihnen wohnen. Flüsse erzählen Geschichten, die Lebensgeschichten einzelner Menschen und ganzer Völker. Fast alle Regionen und Kontinente haben ihren Fluss: Südamerika hat den Amazonas. Afrikas längster Strom ist der Nil. Deutschland hat den Rhein, die Donau, die Elbe und viele mehr. 
Flüsse orientieren, man ist an ihnen zuhause, sie verändern sich ständig, bringen Ruhe und Lebendigkeit. Sie sind gefährlich und faszinieren. Sie sind unberechenbar. Ihre Gewalten lassen sich nur teilweise zähmen und beherrschen. Das zeigen die Überschwemmungen der vergangenen Jahre. Ein Teil der extremen Niederschläge und daraus entstehenden Überschwemmungen gehen auf den menschengemachten Klimawandel zurück. Aber Überflutungen sind so alt wie die Flüsse selbst. 
Seit die Menschen an Flüssen leben, suchen sie nach Wegen, mit Flüssen zu leben. Die Gewalt des Wassers ist dabei nur die eine Seite. Vor allem sind Flüsse lebensspendend. Flüsse sind quer betrachtet ein Hindernis, eine Grenze, die aufhält, aber auch Schutz bietet. Längs betrachtet sind Flüsse die Verbindung zur Welt, die Lebensader des Handels. Und sie sind noch viel mehr. Wo ein Fluss ganzjährig Wasser führt, kann man sich niederlassen. Man kann Felder bewässern, Vieh tränken und sich von dem Fluss und seinen Fischen nähren. Wegen dieser lebensspendenden und lebensgefährdenden Eigenschaften wurden Flüsse in alter Zeit mit Göttern in Verbindung gebracht oder sogar mit Göttern identifiziert.
Flüsse sind natürliche Grenzen. Nicht nur zwischen Ländern, in der Mythologie auch zwischen Leben und Tod. Die griechische Unterwelt hatte als Grenzfluss die Styx. Um ins Land der Toten zu gelangen, musste einen der Fährmann Charon übersetzen. Damit die Toten den Fährmann bezahlen konnten, wurde ihnen beim Begräbnis eine Münze unter die Zunge gelegt. 
Ein Ur-Satz der griechischen Philosophie lautet "panta rhei", "alles fließt". Das geht weit über Flüsse hinaus, doch sie erinnern mich immer daran. Stillstand ist Tod. Stehendes Wasser wird brackig, frisches Wasser ist fließendes Wasser. 
In meiner Kindheit und Jugend kannte ich eigentlich nur dreckige Flüsse. Auf meinem Schulweg überquerte ich täglich den Kocher im schwäbischen Aalen. Jeden Morgen konnte ich vorher tippen, welche Farbe er heute wohl haben würde. Denn aufgrund eines Textilfärbeunternehmens und zweier Papierfabriken wechselte der Kocher täglich seine Farbe. Oft war er grau, manchmal blau oder grün, gelegentlich braun oder sogar pink. Nur klar war der Kocher nie. Als ich als Junge das erste Mal in freier Natur direkt aus einer Quelle getrunken habe, war ich überrascht, wie kristallklar sie war und wie gut das schmeckte. Bis heute kann ich mich an diesen Geschmack erinnern.
Das biblische Paradies soll nicht nur kleine Quellen gehabt haben, aus denen man trinken konnte. Laut der Schöpfungsgeschichte in der Bibel entspringt im Garten Eden ein Strom, der sich in vier Ur-Ströme teilt, die durch die Welt flossen. Euphrat und Tigris waren zwei davon. So erinnert jeder Fluss an das Wasser aus dem Paradies, das Gärten wachsen lässt und Hochkulturen hervorbringt. Es verbindet mit dem Anfang der Schöpfung, als alles gut war. Und auch wo es um visionäre Hoffnung und prophetische Bilder geht, ist in der Bibel von Flüssen die Rede. 
Nach der Eroberung Jerusalems - vor zweieinhalbtausend Jahren - sitzt der Prophet Hesekiel während des Exils in Babylon an einem Seitenkanal des Stromes Euphrat. Dort ereilen ihn Gottes Botschaften. Hesekiel hat überbordende Visionen von einem neuen Jerusalem, einem neuen Tempel und auch von einem Strom, der von Jerusalem hinab ins Tote Meer fließt. (Hesekiel 47,1-9)
Dieser Strom ist ein heilender Strom, keiner, der alles mitreißt und zerstört. Dort, wo er entlangfließen soll, ist bis heute Wüste und kaum Leben. Die Zeit des babylonischen Exils währte nicht ewig, Jerusalem wurde samt Tempel wieder erbaut, nur der Strom lässt noch immer auf sich warten. 
Die Hoffnung auf den großen, heilenden Lebensstrom taucht am Ende der Bibel wieder auf. Dort wird das neue, vom Himmel kommende Jerusalem beschrieben. Diese neue Stadt Gottes hat keinen Tempel mehr, weil Gott selbst darin wohnt. Aber sie hat einen Strom, einen Fluss, der Frieden bringt und versöhnt. (vgl. Offenbarung 22) Dieser Strom heilt nicht nur die Natur, er heilt auch die Wunden aller Völker und der Geschichte. 
Davon sind wir weit entfernt. Aber davon träumen kann man. Am Main- oder am Rheinufer, an der Donau und an der Elbe - oder an jedem anderen Fluss dieser Erde.