Natalität
von Pfarrer Thomas Dörken-Kucharz
03.08.2024 06:35
Feedback zur Sendung? Hier geht's zur Umfrage! 
Sendung zum Nachlesen

Soll man in dieser bedrohten Welt noch Kinder bekommen? Ist es nicht angesichts von Klimakrise und Überbevölkerung geradezu verantwortungslos? Das fragen sich manche junge Menschen. Ich habe mir diese Frage in den 80er Jahren selbst auch gestellt. Die Klimakrise wie heute war damals noch nicht das Schreckensszenario, aber Ozonloch, Waldsterben und atomare Aufrüstung und dann die Katastrophe von Tschernobyl. Das machte die Antwort darauf auch nicht einfacher als heute.

Längst bin ich dreifacher Vater und inzwischen auch zweifacher Großvater, habe also in meinem Leben die Frage klar mit "Ja!" beantwortet. Ich will aber jetzt nicht vom Glück des Eltern- und Großelternseins erzählen, das vernebelt die Schwere der Frage.

Ich will zwei Beobachtungen aus jüdisch-christlicher Perspektive erläutern. Die Frage ist nicht so neu. Die objektive Bedrohung ist enorm gewachsen und heute größer denn je. Doch subjektiv waren Menschen in der Geschichte auch und viel zu oft in ziemlich aussichtslosen Situationen. Es fehlte an vielen Stellen ein Zukunftshorizont, eine Hoffnung, weshalb Menschen unbeschwert und gern Kinder bekommen wollten.

Das ist sicher nicht eins zu eins vergleichbar. Die Verhütung war entweder unbekannt oder schwer zu handhaben. Und, was viel schwerer wiegt: Die Frauen wurden in aller Regel nicht gefragt. Dennoch gab es Liebespaare, die sich über den Wunsch, gemeinsam Kinder zu bekommen, verständigt haben.

Mir fallen zwei Beispiele von Schwangerschaften in ausweglosen Situationen aus der Bibel ein. Die Eltern des Mose bekamen ihren Sohn, obwohl der Pharao von Ägypten befohlen hatte: Jedes hebräische männliche Neugeborene soll getötet werden. Auch im Zusammenhang mit der Geburt Jesu ist von Kindermorden die Rede und die Umstände der Schwangerschaft Marias waren für Josef nicht einfach. Unverheiratet wie sie waren, hätte er die schwangere Maria auch verstoßen können, ja, eigentlich verstoßen müssen, um seinen guten Ruf zu retten. Ob Maria das Kind dann bekommen hätte?

Das ist natürlich Spekulation, aber die biblischen Beispiele zeigen mir, dass es auch früher viele Situationen gab, in der ein Kind zu bekommen die schlechteste aller Möglichkeiten zu sein schien.

Das ist die eine Seite. Wenn man es aber umdreht, die Geschichten von Mose und Jesus als Heils-Geschichten liest, entdeckt man: Wenn Gott ein neues Kapitel aufschlagen will, dann spielen Kinder eine entscheidende Rolle, und immer in Krisensituationen. Dass Gott durch kleine Kinder, Babys und Säuglinge handelt, findet sich nicht nur in der Weihnachtsgeschichte. Wenn man sich die ganze Bibel anschaut, scheint das geradezu Methode zu haben.

Das soll der Frage heute nicht ihre Schwere nehmen und auch keine Antwort vorwegnehmen. Ob man es verantworten kann und will, Kinder in die Welt zu setzen, kann nur jede und jeder für sich bzw. hoffentlich mit Partner/Partnerin entscheiden.

Mir ist noch ein zweiter Aspekt wichtig: "Natalität ist Zukunft und Hoffnung!" In der Medizin ist Natalität einfach der Fachausdruck für die Geburtenrate. Und das wäre dann ein banaler Satz der Statistik. Der Satz "Natalität ist Zukunft und Hoffnung!" ist aber von der jüdischen Philosophin Hannah Arendt. Und sie meint das viel tiefgründiger. Die Geburtlichkeit, - und die nennt sie die "Natalität" - eröffnet jeweils Zukunft. Meint ganz konkret: Mit jedem Säugling beginnt die Welt neu. Jedes Baby schlägt ein neues Kapitel der Weltgeschichte auf, das es vorher nicht gab und ohne dieses Kind nicht geben kann und geben würde.

Ob es verantwortungsvoll ist, in unserer bedrohten Welt Kinder zu bekommen, ist damit nicht entschieden. Aber für mich ist da ein neuer Blickwinkel dazugekommen. Wenn Kinder die Zukunft und die Hoffnung sind, dann muss man, ja kann man nicht unbedingt allein und endgültig entscheiden, ob man es verantworten kann. Erst die Zukunft gibt die Antwort, und die Zukunft sind gegebenenfalls die Kinder selbst.

Es gilt das gesprochene Wort.

Morgenandacht