gemeinfrei via pixabay / StockSnap
22 Bahnen
Sich freischwimmen und abtauchen
03.07.2025 06:35
Wenn nichts mehr geht, dann schwimmt Tilda. 22 Bahnen, um abzutauchen vor der Situation zu Hause.
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22 Bahnen schwimmt sie, wenn sie abtauchen will. Tilda studiert Mathe, kümmert sich um ihre kleine Schwester und ihre alkoholkranke Mutter. Jeden Abend, wenn sie es irgendwie schafft, schwimmt sie 22 Bahnen. Vor Kurzem hat die Autorin Caroline Wahl hier in Kiel aus ihrem Buch "22 Bahnen" gelesen. Tilda ist ihre Hauptfigur.

Es ist für mich ein Sommerbuch. Also kein Sommer-Sommerbuch im Sinne von Strand, Parties und Barfuß-Laufen. Eher eine Geschichte von trotzigen Momenten zum Abtauchen. Denn so traurig die Geschichte um die alkoholkranke Mutter ist, so sehr sucht sich die Protagonistin Tilda für ihre Schwester Ida und für sich Abtauch-Möglichkeiten, irgendwo draußen.

In einer Szene heißt es: ",Ich hasse euch‘, brüllt das Monster uns nach, irgendwas fällt zu Boden, und ich sage: ‚Morgen machen wir eine Wanderung. Wir packen uns einen Rucksack mit Mineralwasser, Müsliriegeln, Sonnencreme und einer Wanderkarte, laufen zur Gartenwirtschaft, essen Kochkäseschnitzel mit einem gemischten Salat und einer großen Cola, teilen uns vielleicht noch ein Stück Apfelkuchen zum Nachtisch und wandern wieder zurück. Wie eine Streberfamilie oder ein agiles Seniorenpaar, was meinst du? Ida antwortet: ‚Vorschlag angenommen.‘"

Und so wandern die beiden immer wieder raus aus den würdelosen Szenen mit der Mutter in der kleinen Wohnung. Meine Lieblingsszene spielt auf einem Hochhaus. Ein Kumpel hat Tilda dorthin gebracht: Viktor. Tilda erzählt: "Wir stehen auf dem Dach circa 100 Meter über der Erde, und ich halte den Atem an. Viktor: Von hier oben sieht´s ganz schön aus, oder? Ich nicke. Ich bin überwältigt von dem, was sich unter mir ausbreitet, und erlaube mir den Gedanken, dass mir vielleicht doch Großes bevorsteht. … Wir setzen uns auf den Rand und schauen den Vögeln zu …Mir ist scheißkalt, aber ich will nicht da runter. Ich will hier oben bleiben."

Die Protagonistin des Buches Tilda stellt auf dem Hochhaus fest: "Von hier oben wirkt das da unten alles so klein. Mama ist von hier oben nur ein kleiner Punkt unter vielen, der ganz egal wird, wenn gleichzeitig am knallpinken Himmel Schwärme von Zugvögeln in den Süden aufbrechen. Von hier oben kann man nicht erkennen, ob ein Punkt Alkohol oder Saft trinkt, ob er überhaupt irgendwas trinkt, und man hört auch nicht, was ein Punkt sagt. Ist eben nur ein Punkt."

Hinauffahren auf ein Hochhaus und in den Himmel schauen. Abtauchen im Schwimmbad. Beide Momente helfen Tilda, damit sie sich der Situation zuhause nicht ausgeliefert fühlt. Gucken in den Himmel. Ahnen, wie es sein könnte: heiler, gesünder, friedlicher. Himmels-Momente können wir suchen – auf dem Dach eines Hochhauses oder aus der Szene wandern oder 22 Bahnen schwimmen.

Manchmal finden mich Himmels-Momente auch ganz von selbst. Unverhofft – wenn ich mit jemandem spreche oder jemanden treffe, die mir gut tut oder der ich gut tue. Im Gottesdienst oder in der Natur. Im Sommer ereilen mich solche Himmels-Momente manchmal etwas leichter. Oder ich bin offener dafür. Wenn die Tage länger sind und es einfach mehr Licht gibt.

Es sind Augenblicke. Ich kann sie nicht festhalten. Aber vielleicht meine Sinne dafür ein bisschen trainieren. Sozusagen ein Sommer-Trainingslager – üben, den Blick frei und himmelwärts zu bekommen oder auf Türme zu steigen, damit ich die Welt und mein Leben aus anderer Perspektive sehe und die Probleme kleiner werden. Oder in die Gartenwirtschaft wandern, Kochkäseschnitzel essen und wieder zurück mit neuem Wind unter den Flügeln.

Es gilt das gesprochene Wort.

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