Im Land der kurzen Sätze
von Pastorin Claudia Aue
16.07.2024 06:35
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Den Wind höre ich noch brausen, und die zerzausten Dünenwege sehe ich vor mir. Wenn der Sand von vorn kommt, sticht er wie kleine Nadeln ins Gesicht. Die dänische Nordseeküste kann sehr rau sein. So erlebt es auch die Ich-Erzählerin in dem Buch "Meter pro Sekunde" (1). Sie fühlt sich zur falschen Zeit am falschen Ort, als sie mit ihrem Mann nach Westjütland zieht. Der arbeitet dort als Lehrer. Sie kümmert sich vor allem um das kleine Kind, und sie schreibt.

Und sie fühlt sich fremd. Sie passt nicht rein in die eingeschworene Gemeinschaft am Ort, spricht anders, denkt anders. Sie ist "lost". Die dänische Autorin Stine Pilgaard beschreibt das so krass und so humorvoll, dass ich beim Lesen immer wieder laut loslachen muss.

In Westjütland scheint jeder Satz zu lang, die Bäume zu kahl und der Wind zu rau. Die Protagonistin fragt sich, warum sie gerade hier gelandet ist. Und versucht, diesen Ort zu ihrem Ort zu machen. Nicht nur, dass sie einen großartigen Job als Kummerkasten-Frau in der Lokalzeitung findet. Sie sucht sich Leute, die ihr helfen. Sie möchte lernen, mit den wortkargen Küstenmenschen zu kommunizieren. Dafür hat sie sich vor allem den Lokal-Redakteur Anders Agger ausgeguckt. Er übt mit ihr, in die Gemeinschaft reinzuwachsen.

Über eine ihrer Nachhilfestunden heißt es: "Wir sitzen in dem Bunker unten am Strand und blicken durch ein Loch in der Wand auf die Nordsee. Anders Agger hat zwei Sahneteilchen mitgebracht vom Konditor und wir beobachten die Wellen, die abwechselnd auf uns zurollen und sich wieder zurückziehen, mit regelmäßigem Atemzug…. Er fragt, ob ich weiter meine Übungen mache."

Die junge Frau erzählt, wie sie übt, um dazuzugehören: mit der Tagesmutter oder dem Fahrlehrer. Und sie erzählt von ihren Schiffbrüchen - wie sie wieder in ein Fettnäpfchen getreten ist. Sie versteht einfach nicht, wie die Leute in Westjütland ticken.

Sich zur falschen Zeit und am falschen Ort zu fühlen, einsam und nicht in die Gemeinschaft passend – von solchen Geschichten wimmelt es in der Bibel. Menschen stranden in der Fremde – oder fühlen sich im eigenen Land fremd. Der Zöllner, der keine Freundinnen und Freunde hat, weil er nur ans Geld denkt. Und Menschen, die unverschuldet fremd und einsam sind, verschlagen ins Exil oder schwer krank. 

Sie alle sind irgendwie ins Abseits geraten – jede und jeder auf ganz eigene Weise. Die Bibel erzählt, wie sie sich wieder oder erstmals in die Gemeinschaft einfädeln. Oft ganz unverhofft und unerwartet. Die Geschichte von Zachäus, dem kleinen, reichen Zöllner habe ich schon oft mit Kindern gespielt. Sie leuchtet immer unmittelbar ein. Laut dem Lukasevangelium gehört Zachäus nicht in die Dorfgemeinschaft. Er war ein Sünder, heißt es. Er hat sich auf Kosten anderer bereichert. So einer wird nicht zum Dorffest eingeladen oder bei den Nachbarn auf ein Getränk.

Jesus kommt in den Ort. Zachäus erfährt davon und macht sich auf den Weg. Die Menge, die Jesus sehen will, ist groß, aber Zachäus ist es nicht. Darum klettert er auf einen Baum. Vielleicht hat er schon viel von Jesus gehört. Vielleicht weiß er eigentlich auch nicht, was er da soll.

Aber da sieht Jesus ihn, ganz unverhofft, und sagt diesen einen Satz: "Zachäus, steig eilend herunter, denn ich muss heute in deinem Haus einkehren." Zack. In der biblischen Geschichte wird das gar nicht weiter hinterfragt. Dieser eine Moment krempelt das Leben des Zachäus um und lässt ihn weniger einsam sein.

Zurück zu meiner Dänin, die versucht, in Westjütland anzudocken. Als sie wieder einmal mit ihrem Coach zusammensitzt und verzweifelt fragt, wie sie dazu gehören kann, sagt er: "Zähl bis zehn, bevor du etwas sagst, kürzere Sätze und weniger Bilder." "Oder Klebeband", murmelt die Protagonistin, aber er schüttelt den Kopf und sagt: "Nein. Wo Wörter sind, ist Hoffnung."

Manchmal reicht ein Satz, um einen runterzuholen und in die Gemeinschaft hineinzunehmen.

Es gilt das gesprochene Wort.

 

 

Literatur zur Sendung:

(1) Stine Pilgaard: Meter pro Sekunde, kanon Verlag (2023)

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