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Die Sendung zum Nachlesen:
„Wer singt, hat keine Angst“, habe ich neulich gehört. Es ging um kirchliche Angebote für Kinder. Aber der Satz kommt mir seitdem immer wieder in den Sinn. „Wer singt, hat keine Angst“: Die ganze Corona-Zeit über, sobald Gottesdienste irgendwie erlaubt waren, haben wir in meiner Gemeinde nach dem Gottesdienst draußen - auf dem Kirchenvorplatz - ein Segenslied gesungen. „Verleih uns Frieden gnädiglich, Herr Gott, zu unsern Zeiten. Es ist ja doch kein andrer nicht, der für uns könnte streiten, denn du unser Gott alleine“. Erst, wenn wir es gesungen hatten, war der Gottesdienst zu Ende. Und es kam mir immer vor, als ob wir uns damit gegenseitig noch einmal den Segen für den Alltag zusingen. „Wer singt, hat keine Angst“.
„Verleih uns Frieden gnädiglich, Herr Gott, zu unsern Zeiten. Es ist ja doch kein andrer nicht, der für uns könnte streiten, denn du unser Gott alleine“.
Mitten in den Bildern vom Krieg diese Frau: Sie setzt sich in ihrem zerstörten Haus ein letztes Mal ans Klavier. Sie wischt Staub und Schutt von den Tasten, seufzt einmal tief und spielt. Ein Stück von Fréderic Chopin. Der Flügel ist verstimmt, aber es klingt trotzdem wunderschön. Zart und gleichzeitig widerständig und stark.
„Wer singt, hat keine Angst“, kommt mir in den Sinn - „ wer musiziert, hat keine Angst“ - und ich verwerfe den Gedanken wieder. Natürlich wird diese Frau auch nach dem Klavierspielen Angst haben. Aber vielleicht war sie einen Moment lang in einer anderen Welt unterwegs – der Welt der harmonischen Töne. Dunkle, schwarze Fensterhöhlen sieht sie im ausgebrannten Haus auf der anderen Straßenseite. Mit ihrem Klavier malt sie andere Farben: Klangfarben – ein ganz kurzer, leichter Moment in all dem Bombenlärm. Vielleicht verabschiedet sich die Frau so von ihrer Wohnung, vielleicht kann sie auch Luft holen, um weiterzumachen. Die Musik ist für einen Moment lang ihre Trutzburg.
„Verleih uns Frieden gnädiglich, Herr Gott, zu unsern Zeiten. Es ist ja doch kein andrer nicht, der für uns könnte streiten, denn du unser Gott alleine“.
Die Reportage neulich ruft mir andere Bilder ins Gedächtnis: eine lange, sehr lange Menschenkette. Es ist der 23. August 1989 und diese Menschenkette reicht durch die baltischen Staaten von Vilnius über Riga bis nach Tallinn – Menschen reichen sich die Hände und wollen, dass ihre Länder unabhängig werden. Sie sehen unsicher aus und ängstlich. Und dann, so sagt der Reporter, beginnt plötzlich einer zu singen. Die ganze Nacht haben die Menschen gesungen – es gibt ja in den baltischen Ländern eine lange Tradition, große Sängerfeste zu veranstalten. Ein musikalischer Schatz vertrauter Melodien und Texte wird immer weiter gegeben – wie wertvolle Erbstücke. Nur, dass die Lieder den Menschen nicht weggenommen werden können, sie wohnen in ihnen und machen sie stark. Können zu jeder Zeit wieder hervorgeholt werden. „Wer singt, hat keine Angst“. Diese Geschichte ging gut aus - im Herbst 1991 erlangen die drei baltischen Länder ihre Unabhängigkeit. Später werden sie Mitgliedstaaten der EU und der Nato.
Wie es für die Ukraine ausgeht, weiß gerade niemand. Der Bombenlärm kann sie aber nicht überdecken, diese leisen Töne voller Hoffnung: Das kleine ukrainische Mädchen, das sich mit ihrer Familie und Nachbarn im Keller vor den Bomben versteckt, singt ein Lied aus einem Disney-Film. Ein Geiger spielt im Bunker Violine. Opernsänger und ein Orchester musizieren auf dem Majdan, dem Platz der Unabhängigkeit in Kiew.
Wer musiziert, der hofft, bleibt widerständig und ist schon für einen Augenblick in einer anderen Welt. Luft holen, miteinander trotzig und auch sanft von einer anderen Welt singen – das hilft, den Glauben daran nicht zu verlieren.
Es gilt das gesprochene Wort.