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Kreativ leben
ein Beitrag der evangelischen Kirche
26.07.2025 10:00

In jedem Morgen steckt eine Chance. Sich lebendig und gut zu fühlen und den Tag willkommen zu heißen, ist nicht gerade die Regel. Vieles an Lebensfreude geht im täglichen Trott unter. Wie es geht, kann man überraschenderweise manchmal bei Menschen lernen, die es besonders schwer haben. Ralph Frieling erzählt von Suleika Jaouad.

 

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Wie jeder Morgen eine Chance bereithalten kann, zeigt mir die US-amerikanische Schriftstellerin Suleika Jaouad aus New York. Mit 22 Jahren erfuhr sie nach dem College ihre Diagnose: Leukämie. Eigentlich wollte sie als angehende Journalistin die Welt erobern. Im Krankenhaus damals war sie verzweifelt und wütend und zu schlapp, um auch nur das Fenster zu öffnen. Die Krankheit bremste alles aus, worauf sie sich gefreut hatte. Da war und da ging nichts mehr.

Unerwartetes

Sie bekam Besuch von einem Freund aus Kindertagen, John. Er brachte gleich seine ganze Band mit. Wenn es eins im Krankenhaus nicht gibt, dann ist es Live-Musik. Ärztinnen und Pfleger traten auf den Flur, guckten, was los ist, wippten zum Beat und klatschten.

Das öffnete Suleika Jaouad die Augen. 

Sie dachte sich: ich könnte jeden Tag etwas Unerwartetes tun oder erleben. Sonst versinke ich im Jammer und Selbstmitleid und in der Krankheit. Suleika Jaouad suchte sich eine Beschäftigung, mit der sie kreativ sein kann. Kreativ sein, sagt sie, kann jede und jeder. Erdbeerkuchen backen ist kreativ genauso wie den Garten machen oder etwas sägen. Sogar ein Ehekrach bringt Kreatives zum Vorschein. Sagt Suleika, die ihren John dann heiratete. 

Sie selbst fing dem Tagebuch Schreiben an. Sie nahm einfach den Stift und schrieb drauf los, ohne Unterbrechung bis die Stoppuhr irgendwann surrte. Sie ließ ihren Gedanken freien Lauf, ohne zwischendurch nach zu denken und am Ende standen oft Formulierungen und Einsichten, die sie nicht erwartet hatte. Das Schreiben half ihr, ihre Sorgen zu verarbeiten. Inzwischen stapeln sich die vollgeschriebenen Kladden in Schränken und Dosen und hinterm Sofa ihrer kleinen Wohnung in Brooklyn.

Malen gegen den Tod

Zehn Jahre später kam der Krebs zurück. Sie packte für das Krankenhaus gleich mehrere angefangene Tagebücher in ihren Koffer, aber zum Schreiben kam sie gar nicht. Die Medikamente beeinträchtigten ihr Sehvermögen. So begann sie mit Wasserfarbe auf großen Papieren zu malen, die jemand an die Wände heftete. Eine junge Frau, die in dem Zimmer putzte, sagte ihr zum Schluss, sie habe extra immer besonders langsam gemacht mit dem Bodenwischen, weil sie sich so wohl fühlte mit all den fließenden, leicht bunten Bildern. 

Suleika Jaouad schrieb ein Buch über ihren Umgang mit der Krankheit und sie begann während der Pandemie, Online-Kurse zu geben: wie das geht, kreativ zu werden gegen die Einsamkeit und die Tristesse. Sie erzählt zum Beispiel von Vivian, die ihre 13jährige Tochter verlor. In ihrem unfassbaren Leid und dieser starken Trauer suchte sich die Mutter eine kleine kreative Aufgabe. Sie begann mit den Malsachen ihrer Tochter kleine Bilder zu malen. Dadurch ging die Trauer nicht weg. Aber Vivian sagte, sie konnte ihrem Kind so besonders nahe sein und sie freute sich jedes Mal über die Erinnerungen, die hochkamen und sie reich machten. 

Jeder Tag könnte dein erster sein

Vor drei Jahren kam Suleikas Krebs wieder zurück, das dritte Mal erfuhr sie die bekannte Diagnose. Ein Damoklesschwert schwebt über ihrem Leben, sagt sie. Sie hörte von mehreren Freunden den Rat: Lebe diesen Tag, als wäre es dein letzter. Aber immer wenn Suleika Jaouad  heute an diesen Rat denkt, spürt sie, wie sehr sie dieser Satz stresst und wie die Panik heran kriecht wie eine Viper. Sie hat gar keine Lust, aus jedem Familienessen das intensivste rauszuholen, jeden Morgen aufzustehen und sich "Carpe diem" (Nutze den Tag!) einzutrichtern. Suleika Jaouad fand ein ganz anderes Bild: Lebe diesen Tag, als wäre es dein erster. Wache auf mit der Neugier des Kindes in dir. Sieh die Möglichkeiten. Das ist es, was die Tage lebendig macht. 

Erzählt nach einem Interview (Suleika Jaouad on Finding Meaning in the Face of Adversity, 2025, https://www.youtube.com/watch?v=TBe3r8mGQYs). 

Es gilt das gesprochene Wort.