Über den eigenen Schatten springen
„Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“, so fasste Jesus einmal die 10 Gebote zusammen. Für diese Nächstenliebe muss man jedoch über seinen eigenen Schatten springen. Davon erzählt das Lukas-Evangelium die Geschichte einer Frau, die von allen Dorfbewohner gemieden wurde, von den feinen Leuten genauso wie von allen Nachbarn (Lukas 7,36-50). Was sie sich zu schulden kommen ließ und warum sie das Stigma einer „Sünderin“ trug, ist nicht bekannt. Vielleicht war sie eine Prostituierte. Diese Frau suchte eine neue Chance im Haus des Simon. Der gehörte zur besseren Gesellschaft.
Frau Sie redeten über mich, ich, das Stadtgespräch. Auf dem Markt bohrten sich ihre Blicke in meinen Rücken. Wegen dem Vorfall damals. „Die Sünderin“, so nannten sie mich. Was ist das denn für ein Name? Den werde ich nie los. Ich weiß, was ich getan hatte. Schwer, da den Kopf über Wasser zu halten, wenn alle auf einem rumtrampeln. Ich hörte von Jesus. Da schmiedete ich einen Plan.
Simon Ich hörte, Jesus ist in der Stadt. Hatte viel von ihm gehört. Ich war neugierig. War er der Verheißene Israels, der Messias? Ich bin ein Pharisäer. Später dachten sie immer, ich gehörte zu den Heuchlern und Gegnern Jesu. Nichts läge mir ferner. Ich habe es versucht und tue es noch: nach der Tora leben, Gott lieben, Gott suchen. Deshalb sog ich alles auf, las und studierte die Bibel. Ich liebe Diskussionen. Die Wahrheit liest du dir nicht an, jedenfalls nicht nur. Der Wahrheit kommst du näher im Gespräch. Dafür lohnt es sich zu streiten. Ich lud Jesus ein in mein Haus. Mit ihm wollte ich reden und essen und diskutieren.
Frau Ich hatte mich vorbereitet auf diese Gelegenheit, ihn zu treffen, Jesus. Heute würde es zum Einsatz kommen, das Salbgefäß, für ihn gekauft, leuchtend-weißes Alabaster, mit dem Öl, duftend. Der Händler hatte es mir aufwändig eingepackt, aus Arabien. Kostspielig. Fein.
Simon Wir sitzen also zu Tisch, alles läuft gut. Da geht die Tür auf, ich sehe meine Frau draußen mit den Armen fuchteln und höre sie rufen: „Das geht doch nicht, du kannst hier nicht rein!“
Da ist sie schon, diese Frau. Sie tritt auf leisen Sohlen heran zu Jesus, kniet, beugt sich hinunter, auf den Boden. Sofort steht der Duft im Raum. Was tut sie da? Sie schluchzt. Weint. Was soll das? Ich gucke hin und gucke weg. So wie die anderen.
Frau Das ganze Öl auf seine Füße. Es vermischt sich grau mit dem Staub. Ich streiche das Öl um seine Knöchel, umhülle den Fuß mit den Händen, dann den anderen. Ich blinzle. Meine Haare haben sich gelöst, fallen. Mit ihnen trockne ich seine Füße, trockne meine Tränen. Was tust du da?!, höre ich.
Simon Was tut die da? Die Sünderin! Er spricht mich an. Simon, sagt Jesus, auf ein Wort. Und dann sagt er etwas über die Liebe. Ja, denke ich, Tora: Liebe Gott und deinen Nächsten wie dich selbst. Er schaut herunter zur Frau und sagt dabei zu mir, Vergebung, Simon. Wem viel vergeben ist, kann groß lieben. Ich sage, darüber müssen wir reden. Er sagt, Frau, deine Sünden sind dir vergeben.
Frau Ich liege am Boden und fühle mich groß und gelöst und befreit. Das war es, was ich gesucht hatte: meine Freiheit. Langsam stehe ich auf, wische mein Gesicht ab. Spüre die Blicke in meinem Rücken. Und sehe in sein offenes Gesicht. Er sagt, geh in Frieden. -- Ich ging dann. Und folgte ihm nach.