Niemand ist ganz unabhängig
Endlich unabhängig und frei. Eigenes Geld, eigener Wohnungsschlüssel. Ich erinnere mich, wie wichtig das für mich als jungem Studenten war. Möglichst von niemandem abhängig sein. Möglichst niemandem auf der Tasche liegen. Und möglichst niemanden um etwas bitten müssen. Sich frei zu fühlen, ist großartig. Klar, niemand von uns ist gerne von anderen abhängig. Genauer betrachtet ist das aber nicht so leicht: Ich bleibe abhängig und angewiesen auf andere. Die Erkenntnis reift: „So ganz unabhängig bist du eigentlich nie!“ Ja, vermutlich müssen alle Menschen auch in westlichen Gesellschaften sich das irgendwann im Verlauf des eigenen Lebens eingestehen, dass sie auch mal um Hilfe bitten müssen. Bei all denen, die erstmal Glück haben und bei denen es gesundheitlich und beruflich gut läuft, kann sich die trügerische Vorstellung fest verankern, dass sie alleine am besten durchs Leben kommen. Aber irgendwann müssen auch sie sich der Einsicht stellen: Ich bin auf Hilfe angewiesen. Ich muss kooperieren. Ich brauche die anderen, manchmal sogar die zweifelhaften Typen!
Sehr deutlich werden uns Fragen der Abhängigkeit derzeit im Hinblick auf unsere Energieversorgung vor Augen gestellt. Die meisten Menschen hätten sich wohl beim Aufdrehen der Heizung oder beim Tanken bis vor kurzem kaum vorstellen können, dass diese Energiefragen sehr schnell zum Problem werden können. Und die Wirtschaftsgespräche in den Arabischen Staaten rufen nicht nur diese Abhängigkeit von Anderen in Erinnerung. Sie werfen auch die Frage auf, von wem ich mich eigentlich abhängig mache. Ist es zu verantworten, wenn dabei Diktatoren die Hände geschüttelt und mit ihnen Verträge gemacht werden? Gibt es Grenzen für Kooperationen und Kompromisse? Und wo liegen dann die Grenzen dafür, von wem ich mich abhängig mache? Ab welchem Punkt lasse ich mich korrumpieren? Es ist nicht leicht, im Erleben der eigenen Abhängigkeiten eindeutige Trennlinien zu ziehen. Es handelt sich um schmerzliche Kompromisse und um Gespräche, die vielen schwer im Magen liegen dürften. Das Heilsame daran könnte sein, dass die Vorstellung von völliger Unabhängigkeit als Illusion zu entlarven ist.
Die biblischen Texte beschreiben immer wieder, dass sogar Gott sich von Menschen abhängig macht. Und auch Jesus bindet sich an Jüngerinnen und Jünger, die immer wieder ziemlich unzuverlässig sind. Es wäre leicht vorstellbar, dass er alleine besser zurechtgekommen wäre. Dass er souveräner aufgetreten wäre. Denn die Jüngerinnen und Jünger kapieren vieles nicht. Die Stärke der Bibel ist, dass sie das Problematische an diesen Menschen nicht ausblendet. Das ermöglicht einen ehrlichen und offenen Umgang mit dem Problem. Und es macht klar, dass wir Menschen mit diesem Dilemma nie fertig werden, uns damit aber auch nie abfinden können. Die Abhängigkeiten, die Jesus eingeht, sind ein Spiegelbild all der Verstrickungen, in denen Menschen immer wieder stecken. Manchmal werden sie uns schmerzlich in Erinnerung gerufen. Die Gas- und Energiegeschäfte mit Diktatoren sind nur ein extremes Beispiel dafür. Und es wirkt verlockend, ohne solche Kompromisse zu leben und alleine den eigenen Weg zu gehen. Aber wer sich vormacht, von nichts und niemandem abhängig zu sein, erliegt einer Illusion.
Einen guten Sonntag!
Norddeutscher Rundfunk (NDR)
Redaktion: Eberhard Kügler
Katholischer Senderbeauftragter für Das Wort zum Sonntag für den NDR
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