Das Wort zum Sonntag: "Stille statt Eskalation"
Pfarrerin Annette Behnken
22.06.2013 22:25

Guten Abend!

 

Es ist Sommer. Urlaubszeit für Viele. Vielleicht sind Sie ja auch schon beim Kofferpacken.

Sonne und Meer. Gutes Essen und Kultur. Gute Gründe für über fünf Millionen Deutsche, in der Türkei Urlaub zu machen.

 

In diesem Jahr ist es etwas anders. Das Auswärtige Amt hat einen Sicherheitshinweis herausgeben; und viele Türkeiurlauber sind beunruhigt wegen der Demonstrationen der letzten Wochen.

 

Und auch in der Türkei herrscht alles andere als Urlaubsstimmung. In den letzten Wochen wurde gekämpft. Ordnungskräfte gegen Demonstranten. Friedliche Demonstranten. Viele junge Leute, die für mehr Demokratie und Freiheit auf die Straße gegangen sind und es dann mit Wasserwerfern und Tränengas, mit Prügeln und Verhaftungen zu tun bekommen haben.

 

Eins ist mir unter die Haut gegangen. Anfang dieser Woche ist etwas Überraschendes passiert. Auf einmal stand da ein Mann. Er stand mitten auf dem Taksim-Platz, den die Polizei geräumt hatte und nun bewachte. Er sagt nichts und tut nichts. Steht nur da, die Hände in den Hosentaschen und guckt. Lange steht er so da. Die Polizei hat Order, keine Demonstrationen mehr zuzulassen. Und ist irritiert. Darf einer da so stehen und gucken? Ist er dann ein Demonstrant oder nicht? Andere stellen sich dazu. Sie sind still, stehen da und gucken. Stundenlang. Bis die Polizei beschließt, dass es wohl doch eine Demonstration ist und einige von ihnen verhaftet.

 

Ich kann es gut verstehen, wenn einem vor Wut der Kragen platzt. Und mir passiert das auch, wenn ich wütend bin. Aber hier: Ein Mann, der einfach nur da steht. Einer, der die Gewaltspirale nicht mitmacht. Der etwas tut, das im Neuen Testament so beschrieben wird: Lass dich nicht vom Bösen besiegen, sondern überwinde es durch das Gute! Er stellt etwas ganz und gar Unerwartetes gegen die Eskalation, nämlich: Stille. Nicht: Auge um Auge, nicht Zahn um Zahn. Stiller Protest, der viel machtvoller wirkt, als die gewalttätige Macht der Polizei.

 

Oft sind es wie in der Türkei die scheinbar Ohnmächtigen, die das Richtige tun. Ich will die Situation dort nicht kleinreden. Aber für mich fängt das schon im Kleinen an, Zuhause. Menschen, die nicht mitmachen bei den alltäglichen Streitspiralen, die mit gegenseitigen Vorwürfen enden oder mit eisigem Schweigen. Zum Beispiel in meiner Familie.

 

Vor ein paar Tagen habe ich mich mit meiner Tochter gestritten und sehr mit ihr geschimpft und war auch ungerecht. Da hat sie sich vor mir aufgebaut und in aller Ruhe einen Satz gesagt: "Mama, hör auf damit!" Alles weitere Schimpfen ist mir im Hals stecken geblieben. Auf einmal war klar, wie unverhältnismäßig meine Reaktion war und wieviel besser es gewesen wäre, wenn ich es so gemacht hätte, wie meine Tochter: In aller Ruhe sagen, was mich stört.

 

Die Gewalt unterbrechen, indem man nicht mitmacht. Im Kleinen und im Großen. Friedensstifter sollt ihr sein. Vielleicht sehen Sie in Ihrem Urlaub diese neue Form des friedfertigen Protestes, die in der Türkei entstanden ist. Denn immer mehr Menschen stehen und schweigen. Nicht nur in der Türkei, inzwischen weltweit. Das ist erstaunlich, überraschend und kreativ. Und es macht Hoffnung. Dass auf Dauer Freiheit und Demokratie sich durchsetzen können, und zwar ganz und gar ohne Gewalt. Es macht Hoffnung, dass es stimmt, was in der Bibel steht: „Selig sind die Friedfertigen“.

Sendeort und Mitwirkende

Norddeutscher Rundfunk

Eberhard Kügler