Das Wort zum Sonntag: Gottesgeschenk "Vertrauen"
Pfarrer Stefan Claaß
24.08.2013 21:30

Eine wichtige Kursarbeit in Mathematik, Klasse 12. Ich war siebzehn. Ausgerechnet an diesem Morgen kam ich 40 Minuten zu spät, weil ich auf dem Schulweg Zeuge eines Verkehrsunfalls wurde. In der Schule angekommen, hat mir meine Mathelehrerin das Arbeitsblatt in die Hände gedrückt und gesagt: „Schreiben Sie die Pause durch und hängen Sie noch 20 Minuten dran. Sie können mir dann die Arbeit in Raum soundso bringen.“ Im  ersten Moment war ich total erleichtert, nicht allein nachschreiben zu müssen. In den Wochen danach habe ich mich gefragt, wie ich das deuten sollte. War sie naiv? Leichtfertig? Optimistisch? Was für ein Vertrauen! Ich hätte doch in aller Ruhe spicken können.

 

Heute sehe ich das von der anderen Seite. Wie weit kann man 17jährigen vertrauen? Freunde von uns standen gerade vor dieser Entscheidung. Sie wollten in Urlaub fahren, der 17jährige Sohn blieb zu Hause. Würde das gut gehen? Oder würde er Party feiern wie sein Freund, bei dem dann nachts die Polizei anrücken musste? Sollten die Eltern einen Nachbarn bitten, ein Auge auf den Sohn zu haben? Vertrauen mit ein bisschen Kontrolle? Von welcher Seite soll ich diese Frage beantworten? Aus Sicht des Sohnes oder der Eltern?

 

Es gibt eine biblische Geschichte, die ein interessantes Licht auf diese Frage wirft. Sie geht so: Ein Mensch wandert aus und vertraut sein Vermögen drei Mitarbeitern an. Zwei von ihnen empfinden das auch als Vertrauensbeweis und vermehren, was sie bekommen haben. Der dritte aber reagiert misstrauisch und vergräbt seinen Teil. Der Besitzer kommt zurück. Die Beziehung zu den beiden ersten Mitarbeitern gedeiht weiter, die dritte zerbricht.

Die Geschichte wird nicht aus der Perspektive des Chefs erzählt. Hat er sich gefragt, wie weit er seinen Mitarbeitern vertrauen kann? Das wissen wir nicht. Im Mittelpunkt stehen die Mitarbeiter. Er hat in alle drei investiert und reist ab. Vertrauen ohne weitere Kontrolle. Zu zwei Dritteln geht es gut. Der dritte Mitarbeiter reagiert mit Misstrauen und zerstört damit alles.

 

Die Geschichte zeigt: Ohne Vertrauen geht gar nichts. Vertrauen wird als Vorschuss gewährt und kann enttäuscht werden. Wer aber grundsätzlich misstraut, macht alles kaputt. Das gilt im Kleinen wie im Großen. Es ist verhängnisvoll, wenn Sicherheitsmaßnahmen so ausufern, dass ein allgemeines Klima des Misstrauens entsteht. Wer grundsätzlich misstraut, wird seine Freunde verlieren.  Auch ein Staat lebt davon, dass die Menschen sich für ihn einsetzen. Wer sich von staatlicher Seite immer nur misstrauisch beäugt und kontrolliert fühlt, wird sein Engagement vergraben.

 

Vertrauen muss aber auch nicht blind sein. Ich kann nicht allen Menschen blind vertrauen. Dafür habe ich auch schon zu viele Enttäuschungen erlebt. Wie kriege ich die Balance hin? Eine positive und kritische Haltung? Ein sehendes Vertrauen?

 

Vor ein paar Wochen habe ich meine Mathelehrerin wieder getroffen. Nach 30 Jahren. Und ich habe sie nach der Arbeit damals gefragt. Sie hat erwidert: „Das hätte ich nicht bei jedem gemacht.“ Sie war nicht naiv. Aus heutiger Sicht würde ich sagen: Sie war erfahren und risikobereit. Gott sei Dank! Dadurch habe ich von ihr nicht nur Differentialrechnung, sondern auch etwas fürs Leben gelernt. Meine Mathelehrerin hat mir nicht blind vertraut, sondern sehend, aber sie hat mir vertraut. Und ihr Vertrauen hat mich bis heute tief geprägt. Ein echtes Gottesgeschenk.

Bevor ich anderen trauen kann, muss ich erlebt haben, wie jemand mir vertraut. Ohne Kontrolle. Dann bin ich viel eher bereit, Vertrauen weiterzuschenken. Sehend und risikobereit.

 

 

Ich wünsche Ihnen einen gesegneten Sonntag!

Sendeort und Mitwirkende

Hessischer Rundfunk, Frankfurt