Das Wort zum Sonntag: "Gewissen"
Pfarrer Stefan Claaß
21.09.2013 22:05

In den letzten Wahlkampfwochen habe ich ein Thema vermisst. Dabei waren die Zeitungen und Fernsehsendungen vollgestopft mit allem Möglichen. Ich habe von Steuern und Maut gehört, von Familien- und Außenpolitik. Ich habe Diskussionen gesehen, und nachher schien eine Halskette wichtiger zu sein als die Inhalte. Aber das eine Thema habe ich vermisst. Was ist damit passiert? Ich frage mich, warum es nicht vorkam. 

 

Ich rede vom Gewissen. Vom Gewissen unserer Abgeordneten. Das ist die einzige Instanz, der die Abgeordneten laut Grundgesetz unterworfen sind: ihrem Gewissen.

Mir ist das total wichtig. In Berlin schwirren tausende von Lobbyisten herum, um ihre Interessen den Abgeordneten, vornehm ausgedrückt, nahezubringen. Wenn ich das mitbekomme, dann hoffe ich, dass die Abgeordneten gewissen-haft arbeiten. Im wahren Sinn des Wortes: mit Gewissen. Wenn ich in Berichten lese, wie viel Druck die Abgeordneten kriegen, auf jeden Fall mit ihrer Fraktion zu stimmen, dann hoffe ich auf das aktive Gewissen der Parlamentarier.

 

Denn das Gewissen erinnert uns an unsere Grenzen und warnt uns, anderen zu schaden. Das Gewissen verbindet uns mit unseren eigenen Erfahrungen, mit unserer Erziehung und mit den Geboten Gottes. Es präsentiert keine fertige Meinung, sondern will täglich geschärft werden an den praktischen Fragen des Alltags.

 

Jetzt werden Sie vielleicht fragen: woher weiß unser Gewissen, wann es Alarm schlagen soll und wann nicht? Die beste Anregung, unser Gewissen zu entwickeln und zu trainieren, finde ich in der Bergpredigt. Da heißt es ganz schlicht: „So wie du von den anderen Leuten behandelt werden willst, so behandle sie auch.“

Wenn ich als alter Mensch Unterstützung bekommen möchte, dann sollte sie ich heute schon anderen anbieten. Wenn ich selbst gern Zuflucht finden würde, wenn mein Leben bedroht wird, dann sollte ich heute schon anderen Zuflucht und Asyl gewähren. Wenn ich mir in Armut Hilfe wünsche, dann sollte ich sie heute schon anderen zukommen lassen.

 

Kürzlich hat mich jemand gefragt, ob ich für ein bestimmtes Wahlergebnis beten würde. Das ist Käse, habe ich geantwortet. Erstens beten wahrscheinlich andere gleichzeitig für ihre Partei. Und zweitens füllt Gott keine Wahlzettel aus. Eine Parlamentswahl ist kein Gottesurteil. Aber dann ist mir ein sinnvolleres Gebet eingefallen. Ich werde Gott darum bitten, dass unsere Abgeordneten genug Ruhe finden mögen, um in den komplizierten politischen Fragen auf die Stimme ihres Gewissens zu hören. Vielleicht können sie sich dann vorstellen alt zu sein, wenn sie über die Pflegeversicherung beraten. Vielleicht können sie sich vorstellen, selber verfolgt zu sein, wenn sie über Asylfragen nachdenken. Vielleicht können sie sich vorstellen, arm zu sein, wenn sie über Finanzpolitik entscheiden.

Ja, ich werde für sie beten. Nicht nur morgen, sondern immer wieder in den kommenden vier Jahren. Bis zur nächsten Wahl.

 

Ich wünsche Ihnen einen gesegneten Wahlsonntag!

Sendeort und Mitwirkende

Hessischer Rundfunk, Frankfurt