Spurensuche
Ein Flüchtlingskind erlebt den Advent
26.11.2016 10:00
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Der andere Advent

Heute werde ich den Adventsstern wieder in den Baum hinter unserem Haus hängen. Wie immer in der Adventszeit wird der große, wetterfeste gelbe Herrnhuther Stern mit seinen vielen Zacken dann dort hängen und in die immer kürzeren Tage bis zum Heiligabend sein freundliches, warmes Licht scheinen lassen. Wie jedes Jahr. Und doch wird sonst alles ganz anders sein in diesem Advent.

Muhammad wird mir heute die Leiter halten, auf der ich in die Äste unseres Baumes steige. Wir machen gerne etwas zusammen in Haus oder Garten, mit ihm lässt sich gut Hand in Hand arbeiten. Diesmal werden wir so miteinander den ersten Adventsstern seines Lebens aufhängen. Seit einem halben Jahr lebt der Junge aus Afghanistan in unserer Familie. Muhammad, ein Moslem. Ein minderjähriger, unbegleiteter Flüchtling, wie es im Amtsdeutsch heißt. Bei uns lernt er Alltagsdeutsch, damit er hier in ein neues Leben findet. Unser Familienleben, zu dem eben auch der Advent gehört.

Was Advent ist, hat Muhammad zwar schon einmal gesehen, zumindest von außen, im vergangenen Winter, zur Adventszeit. Als er in den ersten Wochen hier in Berlin noch von einer Einrichtung in die andere weitergereicht wurde, aber noch lange nicht angekommen war. Dass Advent aber ein Glaubenswort ist, ein Hoffnungswort, das eigentlich mit "Ankunft" zu tun hat, das war für ihn im Getümmel der Weihnachtsmärkte, über die er damals mit großen Augen schlenderte, weiß Gott kaum zu entdecken! Was haben Zuckerwatte und Bratwurstbuden, Riesenrad und Lichterglanz, was hat der ganze Rummel schon mit Religion zu tun…

 

Hinter die Kulisse schauen

Aber in diesem Jahr könnte Muhammad schon besser hinter diese Kulisse schauen. Denn mittlerweile ist er gut in unserer Familie angekommen. Er hat die ersten Feste mitgefeiert und die ersten Erfolge beim Einleben gehabt. Muhammad mag Familienfeste, das haben wir gleich bei der Konfirmation unserer Nichte im Mai gemerkt, bei der sich die ganze Verwandtschaft in einem hessischen Dorf traf. Wo immer da jung und alt durcheinander wuselten, war Muhammad mitten drin, spielte gerne mit den Kindern Fußball, stellte sich den neugierigen Fragen der Erwachsenen – und ging am Sonntagmorgen genauso selbstverständlich mit allen in die kleine Dorfkirche. Nur als sich direkt vor unserer Bank, in der wir dichtgedrängt saßen, der Männerchor des Dorfes aufbaute und zur Feier des Tages aus voller Kehle sein schönstes Lied schmetterte, zuckte Muhammad etwas zusammen. Das war er nicht gewohnt.

"In der Moschee singen wir nicht", erklärte er mir hinter vorgehaltener Hand. Und hat mich danach genauso selbstverständlich mitgenommen in die Moschee, in die er jeden Freitagabend geht. Er hat mich dort seinen Freunden aus der Erstaufnahmeeinrichtung vorgestellt, die er dort jeden Freitag wiedertrifft und ich erfahre von ihm, was der Imam im Koranunterricht so sagt. Überhaupt sprechen wir immer wieder über den Glauben, seinen und meinen, zum Beispiel beim Mittagessen, wenn er von der Schule kommt, aus seiner Willkommensklasse. Wir entdecken dabei viele Gemeinsamkeiten in den Geschichten und bei den Namen, die mir aus meiner Bibel vertraut sind, von Abraham und Josef bis hin zu Jesus und Maria – auch wenn die in seinem Koran Ibrahim und Yussuf oder Issa und Mariam heißen. Mariam, wie Muhammads kleine Schwester, von der er nicht weiß, wo sie jetzt ist. Die Flucht hat die Familie auseinandergerissen, und ich merke, wie es nun umso wichtiger für Muhammad ist, hier in seinem neuen Leben wirklich anzukommen.

Zu diesem Leben gehört, dass er im vergangenen Sommer sicher schwimmen gelernt hat; auf der Flucht wäre er als Nichtschwimmer fast in der Ägäis ertrunken. Gemeinsam haben wir uns über sein Silbernes Schwimmabzeichen am Ende der Sommerferien gefreut. Und genauso, dass der Fußballverein in der Nähe unserem so fußballbegeisterten Pflegesohn ohne großes Zögern Training und Spiele in seiner Jugendmannschaft öffnete. Wir feiern jedes Tor, dass er dort schießt; genauso wie wir mit ihm darüber seufzen, dass es ein so langer, mühsamer Weg ist, bis man in der deutschen Sprache zuhause ist. Aber wir merken auch, wie er darin vorankommt.

 

Einander gelten lassen

Wir haben Glück miteinander. Ohne unsere Sympathie füreinander würde das alles nicht so gelingen; erst recht nicht, unseren Glauben so vor den Augen des anderen zu leben, mit Interesse und Respekt für die Religion des anderen. Muhammad nimmt seinen Glauben ernst. Und so haben wir im letzten Sommer den heißen Ramadanmonat über auf das gemeinsame Abendessen stets bis zum Sonnenuntergang gewartet, bis sein Fasten beendet war. Genauso wird er mit uns am Heiligabend mitkommen in die Christvesper, die ich halten werde – Weihnachtslieder, Christbaum und Posaunenchor inklusive.

Wir lassen einander gelten. Und erleben so miteinander, lernen voneinander, was Advent wirklich bedeutet. Der Stern hängt ab heute als Zeichen, dass unsere derzeit so unfriedlichen Tage nicht so dunkel bleiben müssen. Dass es in einer derzeit so von Konflikten – zumal Glaubenskonflikten – zerissenen Welt darauf ankommt, dass vom Frieden des einen Gottes, von dem unser Glaube spricht – seiner wie meiner! – schon etwas in unserem Leben zu spüren ist.

Sendungen von Pfarrer Klaus Möllering

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