Flucht aus dem Alptraum

Flucht aus dem Alptraum
mit Pfarrerin Anke Prumbaum
02.04.2022 - 23:35

Ich hab immer gesagt, dass ich Flüchtlingen helfen würde, wenn ich könnte. Und dann kam der Anruf. Da sei eine ukrainische Mutter mit ihrem Sohn. Sie seien jetzt gerade im Rathaus, in zwei Stunden wahrscheinlich fertig. Ich hab kurz geschluckt – und dann das gesagt, was Gott sei Dank viele, viele im Moment sagen: Ja.

Ja, und dann steh ich vor dem Haus und sie kommen. Sie parkt das Auto, sie macht den Kofferraum auf, sie fängt an auszupacken. Taschen, massenhaft, zwei große Koffer, der Tornister ihres 8jährigen Sohnes. Plastiktüten. Ich packe mit an. Wir wechseln dabei ein paar Sätze auf Englisch, denn ich kann kein Ukrainisch und sie kann kein Deutsch. Dann hebt sie eine blaue Tasche raus – und als ich übernehmen will, fällt sie mir fast hin. Sorry, sagt sie, Books. Ok, ich verstehe. Deshalb so schwer. Eine Tasche voller Bücher da in ihrem Fluchtauto.

Bücher?

Würden Sie Bücher mitnehmen, wenn Sie fliehen müssten?

Sie heißt Anna. Später, als wir drinnen sitzen und Kaffee trinken und sie endlich die Schuhe ausgezogen hat, die sie seit 5 Tagen getragen hat, unfassbare tausende Kilometer in ihrem Auto gefahren ist, da drin geschlafen hat, sagt sie nochmal was dazu: Ich habe ukrainische Bücher mitgenommen. Ich lese meinem Sohn abends etwas vor. Ich weiß, dass ich alles kaufen kann – Kleidung, Lebensmittel. Aber unsere Bücher, unsere Sprache – das ist Teil unserer Kultur, unserer Identität. Das gibt es nur zu Hause.

Ich verstehe Anna. Bücher, die an ukrainischen Orten spielen, die mittlerweile zerstört sind. Geschichten, die nicht so reden, als wäre der Krieg der Horizont und die Normalität. 

Denn so kommt mir das im Moment oft vor.

Es herrscht Krieg und die Geschichten kreisen um hoffnungslose Verhandlungen und Flugabwehr. Es gibt gar keine anderen Geschichten mehr. Es ist selbstverständlicher, von Militär und Aufrüstung zu sprechen, als vom Frieden...Vom Ideal einer Welt ohne Waffengewalt redet keiner mehr, das ist illusionärer Kram. So viele Jahre für Abrüstung demonstriert, jetzt soll militärische Stärke wieder der Garant für Frieden sein. Also Frieden ohne Waffen, war das alles realitätsfern? Nein, bitte, das war doch nicht alles verkehrt. Echter Friede geht nicht mit Waffen, und ich finde, verstehen Sie mich nicht falsch, trotz aller dagegen schreiender Notwendigkeit -  diese Überzeugung muss auch weitererzählt werden.

In Annas Büchern stehen solche Geschichten.

Abends höre ich ihre Stimme in meinem Gästezimmer, wie sie ihrem Sohn vorliest. Ich stell mir vor, wie in seinem Kopf Bilder entstehen. Schöne Bilder. Anders als die Bilder, die er sehen muss in den Medien. Schreckensbilder. Ich könnte weinen.

Diese tonnenschwere Tasche. Nach welchem Buch würden Sie greifen, weil es Ihnen Geschichten erzählt, die Sie trösten und stärken?

Anna hat übrigens ihre Bibel mitgenommen, würde ich auch tun. Da sind Geschichten vom Frieden drin. Klar, himmelweit entfernt von dem, was wir tagtäglich sehen. Entfernt von Energieversorgungsproblemen und dem Kriegsgeschehen. Aber deshalb nicht falsch – sondern, im Gegenteil, mehr als richtig. Dringend nötig. 

Anna ist nach zwei Wochen bei mir in eine eigene Wohnung gezogen. Ihre Bücher stehen jetzt im neuen Zuhause in Regalen, die Menschen gespendet haben. Und es sind jetzt auch deutsche Bücher dazu gekommen, denn die beiden lernen jetzt Deutsch und ich wünsche ihnen Segen dazu. Und allen, die ihr Schicksal teilen, auch.

Ach, und das deutsche Wort Frieden heißt auf Ukrainisch „mir“. Und auf Russisch auch.

Ich wünsch Ihnen einen gesegneten Abend.