Seit dem Gazakrieg haben die offenen Anfeindungen gegenüber Jüdinnen und Juden in Deutschland rapide zugenommen. Ein Faktum, so Pfarrer Wolfgang Beck in seinem Wort zum Sonntag, an dem nicht vorbeigeschaut werden dürfe. Vielmehr müsse konfrontativ widersprochen werden, wenn Menschen wieder antisemitische Parolen und Verschwörungstheorien verbreiten würden. Gedenken und Ansprachen seien wichtig. Dem schleichenden Gift des Hasses müsse aber täglich widerstanden werden, so Beck. Er ist zu erreichen unter: wolfgang.beck@wort-zum-sonntag.de
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Es ist mir unter die Haut gegangen, was die Vorsitzende einer jüdischen Gemeinde in der letzten Woche sagte. Sie meinte: "Offen steht der Antisemitismus wieder da – laut, schamlos und gewaltbereit!" Ich bin davon immer noch ergriffen. Weil diese drastische Schilderung verbunden ist mit täglichen Anfeindungen. Mit der Erfahrung angespuckt zu werden. Mit gezischelten, unfassbaren Kommentaren, in denen Menschen der Tod gewünscht wird. Oder mit pseudopolitischen Statements, bei denen dümmlich über eine vermeintliche Weltverschwörung schwadroniert wird. All das sind nur einzelne Facetten eines alltäglichen Hasses auf Jüdinnen und Juden. Dieser Antisemitismus ist so massiv und gegenwärtig, dass Menschen Angst haben, ihre religiösen Symbole zu zeigen und offen sichtbar am Leib zu tragen und sie verstecken.
Warum ich das heute anspreche? Eine Woche nach dem 9. November und den vielen Gedenkveranstaltungen und Reden zum Gedenktag der Reichspogrom-Nacht von 1938? Weil genau darin, in der üblichen Form des Gedenkens, ein Teil des Problems liegt: Es gibt die festen Termine im Kalender unserer bundesdeutschen Gesellschaft. Es gibt die zu Recht etablierten, aber damit auch ritualisierten Veranstaltungen. Alles läuft in gewohnten Formen ab. Und es gibt in alldem einen fatalen Gewöhnungseffekt. So, wie sich Menschen daran gewöhnen können, dass im Gehweg die Stolpersteine eingelassen sind. So gibt es in den Nachrichten alljährlich den Hinweis, dass es eine Kranzniederlegung gab. Und wieder eine staatstragende Rede. Alles richtig und wichtig, aber eben auch so gewohnt, dass niemand mehr richtig hinhört. So sehr, dass kaum jemand die Verbindung zwischen den historischen Ereignissen und den aktuellen Entwicklungen erkennt. Vor sechzig Jahren wurde in meiner katholischen Kirche ein Dokument mit dem Titel "Nostra aetate" – in unserer Zeit – verabschiedet. Damit sollte im Zweiten Vatikanischen Konzil ein Schlusspunkt hinter die unerträgliche Geschichte der Antijudaismen im Christentum gesetzt werden. Zur Geschichte des Antisemitismus und des Judenhasses gehört ja, dass er über Jahrhunderte und Jahrtausende im Christentum fest verankert war. Bis hinein in biblische Texte ist dieses Problem zu identifizieren.
Wenn etwa der Evangelist Johannes schildert, dass Jesus immer wieder von Juden angefragt oder bloßgestellt wird, dann ist das keine historische Begebenheit. Es zeigt eher, wie weit entfernt dieser Evangelist schon von der Lebenszeit Jesu und dessen Umfeld war. Sonst hätte er differenzieren können und die Gruppen im Judentum zur Zeit Jesu einzeln benannt. Da er es nicht konnte, sind Texte entstanden, die sich leicht für spätere Diffamierungen heranziehen lassen. Man kann mit ihnen bis in unsere Tage hinein spielend die eigenen Vorurteile bestärken.
Deshalb ist die Erklärung Nostra aetate und die Verbindung mit dem Judentum so wichtig. So wurde auch deutlich, dass wir uns als Christ:innen nicht vom Judentum trennen können. Vor 60 Jahren ist es üblich geworden, von den Jüdinnen und Juden als unseren "älteren Geschwistern" zu sprechen, wie es in Nostra aetate heißt. Das klingt gut, irgendwie vertraut und sympathisch. Es soll sagen: Wir gehören zusammen. Aber auch das kann negativ verstanden werden und sich als Floskel abnutzen.
Wenn gegenüber Jüdinnen und Juden gehetzt wird, dann gilt es, sehr klar und laut Position zu beziehen. Zu widersprechen, wenn wieder jemand über die Juden oder den Staat Israel schwadroniert. Nicht überhören, nicht weglächeln: Sofort widersprechen. Sofort konfrontieren. Sofort Partei ergreifen und sich an die Seite der Angespuckten oder Beschimpften stellen, ist die einzige Option. Deshalb für alle, auch zum Sonntag: Shalom!
Katholischer Senderbeauftragter für Das Wort zum Sonntag für den NDR
Andreas Herzig
Erzbistum Hamburg
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