Viele Menschen erleben Zeit nicht als Geschenk, sondern als Mangel. Das Gefühl, allem hinterherrennen zu müssen, ist weit verbreitet. Dabei steht doch in der Bibel, dass alles seine Zeit hat: Lachen und Weinen, Arbeiten und Lieben. Stattdessen macht die Zeitarmut krank und unglücklich. In ihrem Wort zum Sonntag fragt Pfarrerin Annette Behnken, wie wir diesem Diktat der ständigen Beschleunigung entkommen können und was die biblische Vorstellung von "Ewigkeit" im Herzen jeder einzelnen Sekunde bedeutet.
Sendetext lesen:
Als ich erzählt habe, dass ich für das Wort zum Sonntag über die Zeit nachdenke, hat mir mein Vater eine seiner Weisheiten mit auf den Weg gegeben: Ob sich Zeit lang oder kurz anfühlt, hängt stark davon ab, auf welcher Seite der Klotür du stehst. Blöd, aber wahr.
Zeit ist eine Frage der Perspektive.
Heute Nacht wird uns eine Stunde Zeit geschenkt. Die meisten von uns werden sie einfach verschlafen. Aber die Vorstellung, dass jemand kommt und sagt:
"Hier, bitte: eine Stunde Zeit. Nur für Dich. Mach damit, was Du willst!"
Ich fände das phantastisch. Für manche andere wäre es eine Qual.
Dabei leiden viele unter dem Gefühl, dass die Zeit rast. Als würden wir versuchen, eine Rolltreppe hochzurennen, die immer schneller nach unten fährt. Zeitarmut. Für viele Menschen ist das nicht nur ein Gefühl. Es ist ein Fakt. Zeitdruck aus Finanzdruck, vor allem für Frauen, Alleinerziehende, Geringverdiener. Und das macht krank, an Körper und Seele.
Dabei haben wir doch eine ganze Masse Zeit geschenkt bekommen: ein Leben lang.
Und in dem sollte, wie es in der Bibel heißt, alles seine Zeit haben: Weinen, Lachen, Arbeiten, Streiten, Lieben… Aber: haben Sie das Gefühl, dass es so ist? Dass alles die Zeit hat, die es braucht? Wenn ja: wie wunderbar! Wenn nein: Willkommen in Club.
Natürlich muss gegen diese Art von Druck politisch und strukturell was passieren. Aber einen kleinen Teil können wir auch selbst tun. Für einen Moment die Perspektive wechseln. Morgen könnte das klappen: Wenn Sie einfach die Uhr zum Beispiel erst am Nachmittag zurückstellen. Und sich eine Stunde geschenkte Zeit nehmen. Und wenn es nur ein Gedankenexperiment ist. Was machen Sie damit? Einfach mal gar nichts? Aufräumen? Schlafen? Freunde einladen? Eine Revolution anzetteln?
Vor ein paar Jahren bin ich Mitglied in einem Verein geworden, der heißt "Verein zur Verzögerung der Zeit". Natürlich wird da nicht die Zeit angehalten. Aber was der Verein will, ist unsere Lebenswelten vor der zerstörerischen Wirkung von zu viel Beschleunigung schützen. Es ist lebensfeindlich, wenn wir unter dem Diktat von immer mehr - schaffen, leisten, produzieren - in immer kürzerer Zeit leben.
Wir können die Zeit leider nicht verzögern. Aber wir können respektieren, dass alles seine Zeit und seinen eigenen Rhythmus braucht: Saat und Ernte. Weinen und Lachen. Tanzen. Schweigen. Lieben. Und sogar das Sterben. Wir können die Zeit auch nicht vermehren. Aber wir können sie beleben. Vertiefen. Und manchmal wird sie dann zu erfüllter Zeit, für einen Moment.
Gott hat uns die Ewigkeit ins Herz gelegt, sagt die Bibel. Ewigkeit - meint hier nicht Zeit ohne Ende, für immer und ewig. Die Ewigkeit, von der hier die Rede ist, liegt in jeder Sekunde, in der unser Herz schlägt. Ist eine Qualität der Zeit, die manchmal aufblitzen kann. In kleinen überraschenden Momenten. In denen die Zeit nicht überfüllt ist, sondern erfüllt.
Morgen gibt’s eine Stunde geschenkte Zeit. Und dann und in jeder Stunde und in jeder Sekunde kann es passieren, dass wir spüren: Das eigentliche Zeitgeschenk, das liegt nicht allein in der Menge an Zeit, die wir haben. Sondern in ihrer Qualität. Im Herzen jeder einzelnen Sekunde.