Ewigkeit?
Wir Menschen machen seltsame Dinge, wenn wir um jemanden trauern. Wenn wir meine Schwiegermutter besuchen, passen wir alle auf, dass sich niemand von uns an den Platz meines Schwiegervaters setzt. Obwohl er da nie wieder sitzen wird. Oder gerade deshalb.
Ich denke an die Frau, die mir ein halbes Jahr nach dem Tod ihres Mannes erzählt hat, dass sie immer noch jeden Abend das Hemd für ihn rauslegt, für morgen, wie immer. Obwohl er es nie wieder anziehen wird. Seine Bettdecke aufschüttelt. Obwohl er nie wieder neben ihr liegt. Mich selbst hab ich dabei erwischt, wie ich im Winter mit einer Mütze in der Hand am Grab meiner Tochter stand, weil ich nicht wollte, dass sie friert. Und dachte, glaubte - ich weiß es nicht.
Wenn ich jetzt mit aller, aller, aller Kraft aus jeder Zelle und meiner ganzen Seele wünsche und will, dass sie wieder lebt, dann muss das doch passieren. Wir Menschen tun und glauben seltsame Dinge, wenn wir trauern.
Nichts ist so endgültig wie der Tod. So unglaublich. Der Tod stellt alles auf den Kopf.
Darum war das sehr klug, dass es früher das Trauerjahr gab und die Menschen ein Jahr lang – mindestens - schwarze Kleidung getragen haben. Damit jeder sieht: Der hier oder die hier steht unter besonderem Schutz.
Wenn sie weint mitten im Supermarkt vorm Weinregal, weil ausgerechnet jetzt sein Lieblingswein im Sonderangebot ist. Wenn er im Auto an der grünen Ampel stehen bleibt, weil im Radio grad ihr Lied kommt – und alles andere für diesen Moment völlig egal ist. Wenn sie in seinem Mantel zur Arbeit geht, der mindestens fünf Nummern zu groß ist. Weil er sich wie `ne Umarmung anfühlt. Ein Jahr. Oder länger: Freiheit.. Das ist gut. Weil Trauern mehr ist als ein Gefühl oder ein Zustand.
Trauer ist ein Weg. Niemand kann mir sagen, wo der lang geht. Das weiß nur meine Trauer. Und die führt mich dadurch.
Und dann heißt es irgendwann von Verwandten, Kollegen oder Freunden, die es wahrscheinlich ganz gut meinen und es einfach nicht besser wissen: So. Jetzt musst du aber mal loslassen. Abschiednehmen. Er gehört jetzt nicht mehr zu deinem Leben. Oder sie.
Aber: Nee! So geht das nicht. Ich muss mir niemanden aus dem Herzen reißen. Ich darf weiter lieben. Ich darf weiter verbunden sein mit ihr, mit ihm. Es ist ganz viel vorbei mit dem Tod, ja. Aber - es fängt auch etwas neu an. Ganz langsam, fast unbemerkt. Die Liebe bekommt eine neue Gestalt.
Morgen werden in vielen Kirchen die Namen der Menschen vorgelesen, die in diesem Jahr gestorben sind. Ich mach das in meiner Kirche auch. Und für jeden Namen, für jeden Menschen zünden wir eine Kerze an. Und fast alle Menschen, die dann in der Kirche sitzen haben das erlebt: dass der Tod ihr Leben komplett auf den Kopf gestellt hat. Und auf einmal tickt die Welt anders und ich selbst. Und ich kann manches nicht mehr aushalten. Und anderes, das mir bisher egal war, wird mir plötzlich ganz wichtig und umgekehrt.
Ewigkeitssonntag nennen wir diesen Tag in der evangelischen Kirche. Und sprechen davon, dass der Tod nicht das letzte Wort hat. Ewigkeit ist keine Zeiteinheit. Sondern eine Zeitqualität. Unendliche Kostbarkeit von gelebter Zeit. Geteilter Zeit. Geschenkter Zeit. Ewigkeit ist da, wo ich erlebe, dass es mehr gibt zwischen Himmel und Erde, als unser Verstand fassen kann.
Norddeutscher Rundfunk (NDR)
Redaktion: Sabine Pinkenburg