Das Wort zum Sonntag, 27.4. 2024, Das Erste
Kommentartext
Von Annette Behnken
Mir wurde es das erste Mal so richtig fühlbar klar, als eine Freundin schwanger war. Da wurde damals festgestellt, dass das Kind mit einer lebensbegrenzenden Behinderung zur Welt kommen würde, und der Arzt hat ihr empfohlen, das Kind abzutreiben. Und dann? Ein fast nicht auszuhaltendes Ringen, darum, was sie tun soll. Und keine Eindeutigkeit: Was ist richtig, was ist falsch?
Es gibt einen weisen Satz. Zwei sind es eigentlich. Von Rumi, dem persischen Dichter:
"Jenseits von richtig und falsch liegt ein Ort. Dort treffen wir uns". Das erleben wir ja in solchen Grenzbereichen des Lebens: Richtig und Falsch funktionieren nicht. Egal, welchen Weg ich wähle: An irgendjemandem, an irgendetwas mache ich mich schuldig. Das ist eine Verantwortung, um die kommen wir nicht drumherum im Leben.
Was hilft, ist Begegnung und Beziehung. Menschen, die das mit mir aushalten. Alles, was ich denke und fühle, das ganze innere Chaos und Durcheinander. Und Geduld, damit eine Entscheidung reifen kann - in Kopf, Bauch und Herz.
Aber ich habe im Moment den Eindruck, dass so viele das nicht gut aushalten können und ganz schnell scheinbar sehr klar Bescheid wissen: Das ist richtig, das ist falsch – fertig. Und das macht mir zu schaffen. Weil es so vielen Situationen nicht gerecht wird, im Privaten nicht, in der Politik genauso wenig. Und weil uns damit etwas ganz Grundlegendes verloren geht. Gerade in den Grenzbereichen des Lebens brauchen wir – neben allem Pragmatismus und dem sachlichen Blick auf die Fakten – auch einen weichen Blick. Um die Perspektive zu wechseln. Um Ungewisses und Nichteindeutiges wahrzunehmen. Um den Ort zu betrachten, der jenseits liegt von richtig und falsch.
Im Kaiserreich, 1871, wurde der Paragraph 218 ins Strafgesetzbuch eingeführt. Der Abbruch von Schwangerschaften ist damit strafbar. Auch heute ist in Deutschland ein Schwangerschaftsabbruch verboten. Er bleibt nach einer verpflichtenden Beratung aber straffrei, wenn er in den ersten zwölf Wochen der Schwangerschaft vorgenommen wird. Seit Jahrzehnten wird um den Paragraphen 218 gerungen und gestritten. Jetzt schlägt eine Kommission des Bundestages vor, den Paragraphen abzuschaffen bzw. zu reformieren. Offenbar ist das Thema immer noch nicht zu Ende ausgefochten.
Und - das finde ich angemessen. Weil wir um die ganz grundlegenden Dinge des Lebens immer wieder neu ringen müssen. Wo fängt Leben an? Wo genau? Können wir das wirklich sagen? Und wann hört es auf? Und wer entscheidet über Leben und Nichtleben?
Da, wo Leben anfängt und da wo es zu Ende geht, geht es ums Ganze. Es geht um unsere tiefsten Überzeugungen. Und unsere höchsten Werte. Und oft leitet uns dabei die Angst. Allein zu sein. Fremdbestimmt. Falsch zu entscheiden.
Das Lebensrecht des Fötus. Das Recht auf körperliche Unversehrtheit und Selbstbestimmung der Schwangeren. Wie soll man das denn gut abwägen?
Ich glaube, um solche Fragen müssen wir immer wieder neu ringen. Für mich gibt es dabei noch einen Satz, der mir wichtig ist, ein biblischer Satz: Wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen. Und ich, als Frau und als Christin finde es nicht hilfreich, Frauen zu kriminalisieren, die in Not sind und sich entschieden haben, abzutreiben. In den Grenzbereichen des Lebens brauchen wir den weichen Blick, der uns hilft, den Ort zu sehen, der jenseits von richtig und falsch liegt.
Norddeutscher Rundfunk (NDR)
Redaktion: Sabine Pinkenburg