Vergesst das nicht!

Vergesst das nicht!
mit Pastor Christian Rommert aus Bochum
04.09.2021 - 23:50

Ich habe Menschen in einer Region der Flutkatastrophe, im Ahrtal, besucht. “Was soll ich als Pastor in einem Wort zum Sonntag sagen - angesichts der Flut?“ Das war meine Frage. „Im Fernsehen, wenn Sie dort das ‚Wort zum Sonntag‘ sprechen dürften, was würden Sie gerne sagen?“

Eine Freundin vom Roten Kreuz hat mich mitgenommen nach Ahrweiler, Dernau, Mayschoss. Überall Zerstörung, überall Schlamm! Und in der Ortsmitte: Essensausgaben. Dort treffen sich Hilfskräfte und Einheimische. „Darf ich mit Ihnen sprechen?“ „Mögen Sie mir erzählen, was Sie erlebt haben?“ „Ich hab alles verloren!“, sagt ein Mann, über siebzig, alleinstehend. „Unser Haus, zwölf Wohneinheiten, unbewohnbar, alles weg!“ „Was würden Sie den Menschen gerne sagen, wenn Sie das Wort zum Sonntag sprechen könnten?“ Er überlegt kurz. Und ich erwarte: „Vergesst uns nicht! Spendet weiter!“ Doch er sagt: „Danke! Danke würde ich sagen!“ Und dann erzählt er mir von der Hilfsbereitschaft. Und er zeigt auf seinen Kumpel neben ihm, bei dem er jetzt untergekommen ist. „Für wie lange?“, frage ich. Er lacht rüber zu seinem Freund aus Kindheitstagen: „Zwei Jahre? Eher wirst Du mich wohl nicht mehr los, oder?“  Und für mich leuchtet etwas auf, zwischen Trümmern und Chaos, was manchmal verschüttet ist unter Wohlstand und Neid. Etwas, das wir manchmal übersehen im Alltag: echte Mitmenschlichkeit! Nächstenliebe!

Kurz danach spreche ich mit einer Familie. Was würden Sie gerne im „Wort zum Sonntag“ sagen? „

Die Helfer kamen von überall", höre ich, "Ostdeutschland, Norddeutschland, Süddeutschland, einer sogar aus Schottland. Sagen Sie den Menschen: Danke!“

Die ganze Zeit bin ich unterwegs und erfahre Geschichten der Nächstenliebe und Mitmenschlichkeit, höre von echten Engeln. Ein Bauunternehmer hat einfach ein Stück der Straße wieder hergestellt. Ein paar Frauen haben oben in der Kirche ein riesiges Lager für Hilfsgüter. Ein Polizist, der in Afghanistan war, sich mit Krisen auskennt, brachte schon in den ersten Stunden der Katastrophe seine Erfahrung hier ein. Gute Samariterinnen und Samariter, die einfach geholfen haben. Auch viele Menschen von Bundeswehr, THW, Feuerwehr, Polizei und den Hilfsorganisationen, die oft am Rand der Erschöpfung gearbeitet haben. Mitmenschlichkeit! Nächstenliebe!

Als wir dann aus dem Tal fahren, meine Begleiterin und ich, sage ich: „Ich fühl mich durch diesen Tag gerade total beschenkt!“

Inmitten der Verwüstung, des Baulärms und des Geruchs nach Moder und Schlamm habe ich etwas wie eine Predigt erlebt, eine Mut machende Predigt, eine Botschaft des Lebens: hier gab es Menschen, die einfach Gutes getan haben, die gut waren. Im besten Sinne. Ebenbilder Gottes. Ja, wir können böse, wütend, zerstörerisch sein. Hinter Geldverdienen, Politik, funktionieren und sich behaupten, verschwindet das Gute oft. Unsere Gesichter werden Fratzen. Aus dem Ahrtal nehme ich eine andere Predigt mit: eine Predigt des Menschseins, der Menschlichkeit.

Und jetzt steh ich hier vor Ihnen und hab die vielen Dankeschöns der Menschen weitergegeben. Und dann liegt mir noch auf dem Herzen, Ihnen das zu sagen. Etwas, das mir die Menschen vor Ort nicht so deutlich gesagt haben, das aber jedem dort klar ist: Viele haben Angst vor dem Winter. Der Aufbau wird sehr, sehr lange dauern. Auch dann, wenn die Bilder nicht mehr in den Nachrichten sind. Was für eine wunderbare Predigt der Menschlichkeit wäre es, diese Menschen nicht zu vergessen - in 6 Monaten, in einem, in zwei Jahren! Nachfragen und da sein! Und gemeinsam Mitmenschlichkeit leben und erleben!