Vorfreude
Eigentlich sollte es Anfang Oktober nach Petra losgehen. Schon lange war die antike Hauptstadt der Nabatäer in Jordanien ein Traumziel. Vor einigen Jahren hatte ich schon einmal einen Anlauf genommen. Damals musste die Reise kurzfristig abgesagt werden.
In diesem Jahr sollte es klappen. Bereits im Herbst 2019 buchte ich den Flug nach Tel Aviv. Ein israelisches Reisebüro meines Vertrauens kümmerte sich um den Rest. Nach wenigen Tagen stand die Reise: Unterkünfte und Route, der Transfer nach Jordanien. Ein erfahrener Guide war reserviert. Gebucht und bezahlt. Es konnte losgehen mit der Vorfreude.
Corona ist weit weg
Anfang letzten Jahres höre ich die ersten Nachrichten über Corona. Berichte aus China über ein neues gefährliches Virus. Weit weg erscheint die Krankheit. Jedenfalls nichts, was mit mir und meinem Leben in Europa zu tun hat. Und dann geht auf einmal alles ganz schnell: plötzlich taucht Corona in Europa auf. Die Lombardei ist ein Hotspot, schreckliche Bilder sind zu sehen. Kurz darauf wird das Virus überall in Europa nachgewiesen, auch in Deutschland. Immer mehr Fälle werden bekannt. An unterschiedlichen Orten. Infektionsketten können nicht mehr nachverfolgt werden. Ich begreife, wie gefährlich das Virus ist.
Lockdown
In vielen Ländern handeln die Regierungen. Um die Verbreitung des Virus zu stoppen, werden die Kontakte zwischen Menschen eingeschränkt. So gut es geht und wo immer es geht. Die Grenzen zwischen den Staaten werden geschlossen. Mit dem freien Reisen ist es vorbei. Sogar in Europa. Kaum einer kommt heraus, kaum einer herein. Fast alle internationalen Verkehrsverbindungen werden eingestellt. Das öffentliche Leben wird heruntergefahren. Kulturelle Einrichtungen werden geschlossen, Cafés, Bars und Restaurants. Dann auch die Kindergärten, Schulen und Hochschulen. Das Land steht still, der Kontinent steht still, ja fast die ganze Welt. Ich schaue nach Israel und Jordanien. Lese regelmäßig in der Jerusalem Post. Für meine geplante Reise sieht es düster aus.
Hoffnung keimt auf
Zum Sommer gibt es ein Wunder: die Corona-Fallzahlen sinken stark. Immer noch gilt es Abstandzuhalten und sorgfältig auf Hygiene zu achten. Dazu kommt das obligatorische Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes. Doch das Leben normalisiert sich. Grenzen werden durchlässig und die Welt öffnet sich wieder. Stück für Stück und Tag für Tag. Am Himmel sind wieder Flugzeuge zu sehen. Und mit jedem Tag erhält meine Hoffnung, Petra zu sehen neuen festen Grund. Ich will mich einlesen und kaufe einen Kunstreiseführer. Es kann klappen – es wird klappen!
Ernüchterung
Alles kommt anders. Von Mitte September an werden die Nachrichten zu Corona immer düsterer. Bis auf die Länder in Südost-Asien schnellen die Fallzahlen nach oben. Bei uns und auch in Israel und Jordanien. Die Krankenhäuser füllen sich erneut mit Menschen, die um ihr Leben ringen. Neue Lockdowns werden hier wie dort verhängt. Mit jedem Tag schwindet meine Hoffnung zu reisen. Ich begreife, dass es auch diesmal mit Petra nichts wird.
Entschleunigung und intensive Rückblicke
Ab dem Tag der geplanten Abreise habe ich Urlaub. 13 arbeitsfreie Tage am Stück. Zum Glück dürfen wir in Deutschland unsere Wohnungen verlassen. Das tue ich so oft es geht. Ich starte zu ausgedehnten Stadtspaziergängen oder wandere allein oder mit Freunden im Taunus. Dabei merke ich, dass ich das sehr genieße. Freihaben und nicht verplant zu sein. Draußen sein und die Natur spüren. In den Tag hineinleben ohne äußern Druck und ohne Verpflichtungen.
An den Abenden greife ich gerne ins Regal mit den Bildbänden von vergangen Reisen. Aus dem letzten Jahr, dem vorletzten Jahr und von Reisen, die schon viel länger zurückliegen. Noch einmal werden Augenblicke und Momente lebendig. Aus den Bildern formen sich Geschichten und längst vergessene Begebenheiten. Ein intensives Nacherleben, das mir richtig Freude macht. Mit jeder Seite und jedem Bild kommen alte Erinnerungen zurück. Beim Durchblättern lasse ich mir viel Zeit. Das kann nur Entschleunigung sein, das ist Entschleunigung.
An die abgesagte Traumreise denke ich kaum. Nur eine E-Mail des Reisebüros in Tel Aviv hält den Gedanken wach. Sie berichten von ihrer großen wirtschaftlichen Not und der Sorge um die Zukunft. Weil seit Monaten niemand kommt. Sie bitten mich, nach dem Corona-Spuk noch einen dritten Anlauf mit ihnen nach Petra zu wagen. Ich sage zu. Ganz ohne Trauer und ohne Bitterkeit. Vielleicht sind ja aller guten Dinge drei.