Das Wort zum Sonntag: "Das Prinzip Barmherzigkeit"
Pastor Gereon Alter
07.07.2012 22:40

Wie gehen wir mit Menschen um, die an kirchlichen Idealen gescheitern sind? Zum Beispiel mit Menschen, deren Ehe zerbrochen ist und die dann wieder geheiratet haben. Um diese Frage wird in der katholischen Kirche schon seit vielen Jahren gerungen. Das Kirchenrecht sieht gravierende Sanktionen vor. In der Praxis dagegen gilt meist das Prinzip Barmherzigkeit. Also klaffen Recht und Praxis manchmal weit auseinander.

 

Eine Situation, die vor allem für die Betroffenen schwierig ist, aber auch für die Kirchengemeinden, in denen sie leben – und nicht zuletzt: für mich als Seelsorger. Denn wie soll ich entscheiden? Entweder verstoße ich gegen geltendes Recht oder ich werde den Menschen mit ihrer je eigenen Geschichte nicht gerecht. Deshalb fordern immer mehr Priester und mittlerweile auch Bischöfe Änderungen im Kirchenrecht. Damit das, was in der Praxis Gott sei Dank schon geschieht, auch kirchenrechtlich in Ordnung ist. So einfach das klingt: es ist hochkompliziert. Denn es geht um viele Einzelfragen. Und außerdem ist das Thema kirchenpolitisch höchst brisant.

 

Wie ist Jesus Christus mit dieser Frage umgegangen? – Einerseits hat er sehr klar und deutlich gesagt "Was Gott verbunden hat, soll der Mensch nicht trennen." (Mt 19,6). Ein Freund, der gerade eine Scheidung hinter sich hat, sagte mir kürzlich: "Eigentlich müsste es heißen '… das kann (!) der Mensch nicht trennen'. Denn das was zwischen mir und meiner Frau war, ist ja mit der Scheidung nicht einfach weg." Und damit meinte er nicht nur die gemeinsamen Kinder und die vermögensrechtlichen Angelegenheiten, sondern das, was zwischen den beiden über viele Jahre hinweg gewachsen ist und sich tief in ihre Lebensläufe eingeprägt hat. Nehmt das ernst und verleugnet es nicht! Dafür hat Jesus sich stark gemacht – gegen eine schon damals recht laxe Scheidungspraxis, in der das, was einmal zwischen zwei Menschen war, nicht viel bedeutete und schnell ersetzbar zu sein schien. Da hatte Jesus ein anderes Bild vom Menschen. Deshalb sein vehementes Eintreten für Treue und Verlässlichkeit. Einerseits.

 

Andererseits wusste er sehr wohl, dass Lebensentwürfe scheitern können. Dass sich das, wonach wir uns eigentlich sehnen, in ein schmerzhaftes Scheitern verwandeln kann. Jesus hat immer wieder mit Menschen zu tun gehabt, die vor einem Scherbenhaufen standen. Wie ist er mit ihnen umgegangen? Er hat sich Zeit für sie genommen, sich ihre Geschichte angehört und ihnen ein ermutigendes Wort mit auf den Weg gegeben. "Ich verurteile dich nicht." hat er zu einer Frau gesagt, die beim Ehebruch ertappt worden war (vgl Joh 8,3-11). Wir kennen die näheren Umstände nicht; wissen nicht, warum die Frau so gehandelt hat. Dass aber im Evangelium dieser Satz festgehalten ist – "Ich verurteile dich nicht" – zeigt, wie wichtig gerade das für Jesus gewesen sein muss: die nicht noch zu verurteilen, die gescheitert sind.

 

Einerseits – andererseits. Jesus ist es gelungen, beides in Einklang miteinander zu bringen. Er hat sich für Treue und Verlässlichkeit stark gemacht und gleichzeitig barmherzig am Menschen gehandelt. Er hat das Ideal der Treue hochgehalten und zugleich ein großes Herz für Gescheiterte gehabt.

 

Ich bin weder ein Kirchenrechtler, noch an den gegenwärtigen Beratungen der katholischen Bischöfe beteiligt. Aber als Seelsorger, der regelmäßig mit Menschen zu tun hat, deren Ehe gescheitert ist oder die auf andere Weise in Konflikt mit kirchlichen Geboten geraten sind, warte ich dringend darauf, dass sich die Kluft zwischen Recht und Praxis endlich verringert. Um der Betroffenen willen. Aber auch um unserer Kirche willen. Denn wir stehen in der Pflicht, so zu handeln, wie es Jesus Christus getan hat. Ich wünsche Ihnen eine gute Nacht und einen gesegneten Sonntag.

Sendeort und Mitwirkende

Martin Blachmann (WDR)