Das Wort zum Sonntag: "Getestet - und verworfen"
Pastor Gereon Alter
14.07.2012 21:25
   

Es gibt Momente, da stockt mir beim Zeitungslesen der Atem. Vor einigen Tagen etwa. Da lese ich, dass es amerikanischen Chirurgen gelungen ist, einen winzigen Embryo im Mutterleib zu operieren. Man habe dem kleinen Mädchen einen Tumor aus dem Mund entfernt – durch die Bauchhöhle der Mutter und die Fruchtblase des Kindes hindurch. Das Mädchen ist mittlerweile gesund geboren, und die Mutter ist überglücklich. Ist das nicht großartig: was moderne Medizin bewirken kann!

 

Einige Tage später stockt mir wieder der Atem. Da lese ich, dass es jetzt einen Schnelltest gibt, mit dem man ohne großen Aufwand überprüfen kann, ob ein Embryo am sog. „Down-Syndrom“ erkrankt ist. Das sei aber nur ein erster Schritt. Schon in Kürze werde man weitere Erkrankungen vorhersagen können. Ja, man werde bald das gesamte Erbgut eines Menschen noch vor seiner Geburt entschlüsseln können.

 

Was bedeutet das für unsere Gesellschaft? – Wird dann ein Mensch, der mit einer siebzigprozentigen Wahrscheinlichkeit irgendwann einmal an Krebs erkranken wird, noch vor seiner Geburt „verworfen“ werden? So heißt das im medizinischen Fachjargon. Werden Eltern, die sich sehnlichst ein Mädchen wünschen, aber „leider nur“ einen Jungen bekommen, sich überlegen können, ob sie das Kind behalten wollen? Wenn ich auch nur anfange, mir auszumalen, was die vorgeburtliche Diagnostik schon in Kürze möglich machen wird, dann bekomme ich es mit der Angst zu tun.

 

Male ich das Bild zu schwarz? Wird es dazu gar nicht kommen? – Der Präsident der Bundesärztekammer Frank Ulrich Montgomery sagt: „Unsere Gesellschaft hat sich für Pränataldiagnostik entschieden. Das Rad lässt sich nicht mehr zurück drehen.“[1] Das klingt mir nicht nach einer großen Bereitschaft, dem rollenden Rad in die Speichen zu greifen, wenn es denn in eine gefährliche Richtung rollt.

 

Ein anderer, der Berliner Humangenetiker Stefan Mundlos, hat da mehr Bedenken. Er hat schon im vergangenen Jahr zu einer breit angelegten gesellschaftlichen Auseinandersetzung aufgerufen.[2] Wie gehen wir mit den rasanten Entwicklungen der modernen Gendiagnostik um? Wer definiert, was lebenswert und was lebensunwert ist? Gibt es überhaupt lebensunwertes Leben? Wie gehen wir um mit Menschen, die krank sind oder eine Behinderung haben? Und wie mit denen, die sie lieben und sich um sie sorgen?

 

Für mich als Christ ist in all dem der Gedanke leitend, dass wir Menschen unsere Daseinsberechtigung gerade nicht einem anderen Menschen verdanken. Dass keinem anderen Menschen ein Urteil darüber zusteht, ob ich es wert bin zu leben oder nicht. Ich bin überzeugt davon, dass ich mein Leben einem Gott verdanke, der mich so gewollt hat, wie ich bin. Mit meinen Fähigkeiten und Begabungen und mit meinen Schwächen und Grenzen. Und ich glaube an einen Gott, der uns so füreinander geschaffen hat, dass niemand alles und niemand nichts hat. Wo ich schwach bin, ist ein anderer stark. Und wo ich stark bin, kann ich mich für einen anderen stark machen.

 

Wie auch immer Sie die Würde des Menschen begründen: lassen Sie uns gemeinsam eintreten für das Lebensrecht aller. Damit niemand auch nur mit dem Gefühl durchs Leben gehen muss „Eigentlich bin ich ja gar nicht gewollt“. Damit Eltern, die ein Kind mit einer Behinderung haben und es über alles lieben, sich nicht anhören müssen „Das hätte man doch verhindern können“. Setzen wir uns gemeinsam dafür ein, das jeder Mensch mit der Gewissheit leben kann „Es ist gut, dass ich so bin, wie ich bin.“

 

Ich wünsche Ihnen eine gute Nacht und einen gesegneten Sonntag.

 

 

 

 



[1] Frank Ulrich Montgomery, in: Rheinische Post, 05.07.2012, Empörung über Schnelltest zu Down-Syndrom. Ärztepräsident verteidigt Vorhaben.

[2] Vgl. Stefan Mundlos, Genomanalyse – Wo stehen wir? 25. Deutscher Kongress für Perinatale Medizin, Berlin, 1.-3. Dezember 2011.

 

Sendeort und Mitwirkende

Angelika Wagner (WDR)