Das Wort zum Sonntag: "Alter und Zeit" - ein übermächtiger Gegner?
Pfarrerin Dr. Adelheid Ruck-Schröder
15.09.2012 21:55

Letzten Montag, den 10. September, habe ich bei mir in der Gemeinde in Göttingen eine 100jährige zum Geburtstag besucht. Frau Niederhausen wurde geboren, als die Titanic sank. Wir stießen auf ihren 100. Geburtstag an. "Sie sind also die neue junge Pastorin.", sagte sie mit Blick auf den Gemeindebrief. Ich habe gelacht, aber nicht gesagt, dass ich schon 46 bin.

Dann hat sie erzählt: "Der Körper macht nicht mehr so mit wie früher. Auf einem Auge bin ich fast blind und beim Stehen werde ich schnell schwach." Ich habe erst einmal fast nur zugehört. Dann meinte sie: "So gehen wir Menschen dahin. Ich werde auch einmal nicht mehr sein. Aber wissen Sie, das Beste kommt noch."

Beim Geburtstag einer 100jährigen erwartet man eigentlich etwas anderes als solche Lebensfreude. Immerhin hat sie mit 100 Jahren ganz sicher den Tod vor Augen. Trotzdem wirkte sie auf mich irgendwie zuversichtlich und lebensfroh.

Am selben Montag, fünf Stunden später, hatte ich noch eine andere Begegnung mit einem alten Menschen. Eine literarische Begegnung. Ein Interview mit einem 92jährigen. Es ist am Montag in einem Magazin veröffentlicht worden. Auch dieser alte Herr weiß, wovon er redet: "Das Alter ist fürchterlich.", sagt er. "Im Alter stehen wir einem übermächtigen Gegner gegenüber, wir sind allein und werden immer schwächer. Dieser Gegner, die Zeit, wird immer stärker, und sie vernichtet nach und nach immer mehr von uns, ohne dass wir uns wehren können, bis er uns schließlich ganz auslöscht."

Was für ein Gegensatz.

Eine ganz normale Frau, 100 Jahre alt, und ihr gegenüber ein 92jähriger mit Namen: Marcel Reich-Ranicki, der große Literaturkritiker. Beide, die alte Dame und der alte Kritiker, kämpfen mit dem Alter, mit diesem großen Gegner, der Zeit, die unser Leben weniger macht. Ich verstehe auch Reich-Ranicki mit seiner Bitterkeit. Als Kind habe ich diesen Versuch gemacht: Da habe ich die Augen geschlossen und wollte unbedingt rausfinden, wie es sich anfühlt, nicht mehr da zu sein. Das funktioniert natürlich nicht. Aber die Angst davor, nicht mehr zu existieren, begleitet auch mich.

Ich verstehe Reich-Ranicki, den die Religion und selbst die Literatur nicht mehr trösten. Aber das Interview mit ihm hat mir keine Hoffnung gegeben. Hoffnung hat mir Frau Niederhausen gegeben.

 "Das Beste kommt noch.", sagte sie.

 „Denn wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir. “Wie selbstverständlich zitierte sie diesen Satz aus dem Neuen Testament. Und aus ihrem Mund hat mir dieser Satz Mut gemacht.

Reich-Ranicki hält so etwas für „sentimentales Geschwätz“. Aber für mich war es Ausdruck ihres Glaubens, wenn das Beste noch vor uns liegt.

Zwei vollkommen unterschiedliche Umgangsweisen mit dem Tod sind mir an einem Tag begegnet.

Imponiert hat mir letztlich die 100jährige Frau Niederhausen, ihr Glaube und ihre Zuversicht, und die teile ich.

Sendeort und Mitwirkende