Alltag in Afghanistan
Afghanistan. Ein Feldlager der Bundeswehr, ein Außenposten, der Observation Point North, in der Nähe von Kunduz. 600 deutsche Soldatinnen und Soldaten leben für sechs Monate auf einem Gelände, das von drei Rollen Stacheldraht eingezäunt ist. Überall sind Wachposten. Es ist heiß oder kalt, eigentlich immer extrem. Wir schlafen in Zelten, es gibt nur wenige richtige Toiletten, das Essen ist einfach. Schüsse in der Umgebung gehören zum Alltag. Ich bin als Militärseelsorger in Afghanistan, Frühjahr 2011. Die Bedingungen sind ungewohnt für mich, aber es geht mir gut. Es gibt viel zu tun. Soldatinnen und Soldaten reden mit mir über das, was sie bewegt: die Trennung von zu Hause, ihre Ängste, ihren Ärger. Ich feiere Andachten und Gottesdienste und versuche, den Soldatinnen und Soldaten ein Stück Abwechslung in ihren Alltag zu bringen: viele kommen zu den Kino-Nachmittagen, wir kochen gemeinsam oder machen zusammen Musik.
Der Anschlag
Es ist der 18. Februar 2011. Heute steht für mich ein Highlight auf dem Programm. Ein Soldat will sich taufen lassen. Wir haben vorher viel über den christlichen Glauben gesprochen, was es bedeutet, getauft zu werden. Alles ist vorbereitet. Ich packe die Taufurkunde, die Taufschale, die Liederhefte und die Gitarre zusammen und mache mich auf den Weg zum "Taufplatz", da fallen Schüsse. Eigentlich nicht ungewöhnlich, aber jetzt doch sehr, sehr nahe. Viele Schüsse, in unserem Camp. Als ich noch näher komme, sehe ich, dass ein afghanischer Soldat mit seiner Maschinenpistole in eine Gruppe von deutschen Soldaten geschossen hat. Sie waren gerade dabei, einen Panzer zu reparieren. Soldaten schreien, Blut ist auf dem Boden, die verletzten Soldaten werden von Kameradinnen und Kameraden sofort versorgt, ein Arzt und Rettungssanitäter der Bundeswehr sind sehr schnell vor Ort. Gott sei Dank sind sie auch in dem Feldlager stationiert.
Bald danach landen Rettungshubschrauber der amerikanischen Army. Die Verwundeten werden sofort in die Militärkrankenhäuser in der Umgebung geflogen. Dort sterben leider drei Soldaten. Sechs zum Teil schwerstverwundete Soldaten können glücklicherweise gerettet werden und überleben.
Die Tage danach im Feldlager sind voller Trauer. Ich führe noch mehr Seelsorgegespräche als sonst. Die Verzweiflung und die Verunsicherung sind groß. "Wieso musste das passieren? Wie wird es weitergehen?" fragen die Soldatinnen und Soldaten.
Verzweiflung und Trauer
Am Tag nach dem Anschlag feiern wir eine Trauerandacht. Es ist kalt, Schneeregen peitscht uns ins Gesicht, wir frieren, es wird dunkel. Und doch: fast alle sind da. Die Soldatinnen und Soldaten wollen Abschied nehmen. Wir singen, beten, hören auf Gottes Wort. Ich predige über Dietrich Bonhoeffers "Von guten Mächten wunderbar geborgen", auch in dieser schlimmen Situation. Wir hören das Halleluja von Leonhard Cohen, viele haben Tränen in den Augen. Die Nässe und die Kälte kriechen uns auch unter die Kleidung.
Ich habe Kondolenzbücher ausgelegt, aber ich rechne damit, dass sich nur noch wenige eintragen und die anderen möglichst schnell in ihre Zelte gehen. Falsch. Alle bleiben. Alle tragen sich ein, viele mit persönlichen, letzten Grüßen an die Gefallenen. Die Kondolenzbücher werden vom Regen aufgeweicht, so dass wir sie später trocknen müssen. Ich schicke diese Kondolenzbücher dann an die Angehörigen der Gefallenen in Deutschland.
Als wir zurück ins Hauptlager der Bundeswehr in Afghanistan nach Masar-e-Sharif fliegen, sind die Soldatinnen und Soldaten zutiefst traurig. Noch nie habe ich in so viele verzweifelte Gesichter junger Menschen gesehen.
"Von guten Mächten wunderbar geborgen"
Und dennoch: Trotz allem Schmerz, trotz allem, was uns zutiefst getroffen hat, sind wir zu einer Gemeinschaft geworden. Dieses schreckliche Ereignis hat uns eng verbunden.
Mir hat diese Gemeinschaft geholfen, eine der herausfordernsten Situationen meines Lebens durchzustehen. Mir hat die Gewissheit geholfen, dass ich auch in meiner Trauer und meinem Schmerz von meiner Familie und von meinen Freunden in Deutschland getragen bin. Und ich habe erfahren, wie mich die Gewissheit, dass Gott auch und vielleicht sogar gerade in solchen Situationen bei mir ist, mich gerettet hat. Ich habe erlebt, wie ich in meiner persönlichen Angst und Verzweiflung, in meiner Trauer und in meinen Tränen, "von guten Mächten wunderbar geborgen" bin. Gott sei Dank.