Spurensuche
Ein Lächeln auf der Straße
15.10.2016 10:00

 

Sendung zum Nachlesen

Die Bibel – eine Begegnungsbuch

Die Bibel ist von der ersten bis zur letzten Seite ein Begegnungsbuch. Von den Paradiesgeschichten bis zur Offenbarung lesen wir von gelingenden und scheiternden Begegnungen: Mensch und Mitmensch, Mensch und Gott, Kranke und Heilende, Familienangehörige, Suchende und Jesus, Volk und Nachbarvolk.

Offensichtlich ist die Beziehung von Mensch zu Mitmensch, aber auch die Beziehung von Mensch zu Gott und umgekehrt eine "Beziehungsgeschichte".

Von Jesus erzählt die Bibel, er sei über die Straße gegangen. Habe gefragt: Was fehlt dir? Habe sich Zeit genommen. Sei bei Nachbarn und bei Fremden eingekehrt.

 

Ich erlebe, dass diese Eins-und-Eins-Begegnungen immer seltener werden.

Jeder für sich im Fitnessstudio oder in der Masse im Stadion. In Gasthäusern will jeder möglichst seinen eigenen Tisch. Sogar in der Kirche. Viele sagen: "Ich gehe gerne in die Kirche, aber nur, wenn kein Gottesdienst stattfindet. Weil ich dann alleine bin."

Ich übertreibe: Der Deutsche will entweder in der Menge untertauchen oder in Ruhe gelassen werden.

Ich übertreibe noch einmal: Deutschland in 30 Jahren: Ein Pflegeheim mit 80 Millionen Einzelzimmern, perfekt verkabelt, jedes Zimmer mit separatem Eingang.

Ich nehme mich da gar nicht aus. Will Ihnen aber kurz erzählen, was mir Hoffnung macht, dass es anders kommt

 

Ein Lächeln von Gegenüber

Ein Lächeln von der gegenüberliegenden  Straßenseite ist mir unter die Haut gegangen.

Ich sah auf meiner Höhe der Straße eine junge Frau auf der gegenüberliegenden Straßenseite still in sich hineinlachen.

Ich weiß nichts von ihr. Kenne keinen Namen, keine Geschichte. Ich weiß nicht mehr die Kleidung oder die Haarfarbe.

Und doch ist das selbstvergessene, unkontrollierte Lächeln dieser Frau immer noch eingebrannt in die Erinnerung eines viel älteren Mannes, den sie nicht einmal wahrgenommen hat. Auch mein eigenes Lächeln hat sie nicht wahrgenommen. Für mich war es ein glücklicher Moment.

Sie, dort drüben auf der anderen Straßenseite, glaubte sich unbeobachtet.

Ich gebe zu, es geschieht sehr selten.

Es tut gut, Menschen lachen oder lächeln oder gar strahlen zu sehen, ohne dass gerade einer einen Witz gemacht hat.

Vielleicht ist doch etwas "ernsthaft Schönes" der Anlass eines stillen, selbstvergessenen Lächelns?

Eine Erinnerung? Ein Blick? Eine Hand?

Auslöser ist immer eine Begegnung.

 

Begegnungen für Augen-Blicke

Millionenfach sind uns Menschen begegnet. Hunderte, Tausende dieser Begegnungen mit ent­gegenkommenden Passanten, auf Bahnhöfen, an der Ampel die kurze, wortlose Begeg­nung mit dem Vorbeifahrenden, mit denen, deren Nähe du spürst auf Zebra­streifen und Rolltreppen. Im Stau auf der Autobahn. Jeder trägt Millionen Sammelalben mit sich, eigenartige Begeg­nungen, jeweils nur der Beginn. Als ob einer Ouvertüren sammelte oder Vor­worte von Büchern oder Fernsehansagen oder Heftumschläge. Es bleibt bei diesem Augen-Blick.

Ich erlebe das häufig: Ich sehe oder höre oder erlebe den Beginn einer Geschichte, der ich mich öffnen möchte. Da lacht ein Mensch still in sich hinein. Ich möchte die Straßenseite wechseln, ihn umarmen, den Schatz entdecken, der ihn so strahlen lässt. Aber die Rolltreppe ist gnadenlos. Das Grün der Ampel ist zu kurz.

Da verliert ein Mensch – halb unterdrückt – eine Träne. Ich möchte ihn in die Arme nehmen, doch der Bus fährt ab, die S-Bahn schließt die Türen.

 

Sie sind Millionen Menschen begegnet

Sie sind Millionen von Menschen begegnet.

Auf der Bank. Im Urlaub. In der Bahn. Im Flieger. Am Strand. Beim Einkaufen. Im Gottesdienst. Beim Konzert. Im Schwimmbad. Auf dem Amt. Im Krankenhaus. Auf der Hütte in den Bergen. In der Kneipe um die Ecke. Im Stadion. Bei der Demo. Am Würstchenstand. Beim Griechen. Beim Italiener. Beim Sport. Im Wartezimmer beim Arzt. Im Bus. Es sind Millionen.

Und einige bleiben in Erinnerung. Einige wenige. Ist das nicht schade?

Von Millionen Begegnungen können Sie – die Verwandten und Freunde ausgenommen – maximal 20 näher beschreiben.

 

Was geben wir weg, wenn wir nicht die Straßenseite wechseln?

Es sind viele Leben, die wir so weggeben. Ungeöffnete Geschichten.

Ich weiß, der Gedanke ist verrückt. Und doch würde ich gelegentlich gerne den Augenblick auf dem Zebrastreifen oder beim Einkauf einfrieren. Würde gerne für gut eine Viertelstunde die Zeit anhalten auf der Straße oder beim Sport. Und erfahren, was die Eine zum Strahlen bringt oder zum Lächeln, den Zweiten zur versteinerten Miene und die Dritte zum leisen Weinen.

Ich bin mir sicher: Wir täten uns gegenseitig gut.

Sendungen von Pfarrer Gerhard Engelsberger