Das Wort zum Sonntag: "Volkstrauertag"
Pfarrerin Adelheid Ruck-Schröder
12.11.2011 21:10

Ich komme eigentlich nicht so schnell ins Stocken. Aber kürzlich ist es mir doch passiert. Ich wollte im Religionsunterricht wissen, was junge Erwachsene über den Volkstrauertag denken.

Tim hat unser Gespräch von Anfang an aufmerksam verfolgt – ohne etwas zu sagen. Wir sprachen über die Tausende von Opfern des Ersten und Zweiten Weltkriegs und darüber, dass es gut sei, an einem Tag im Jahr öffentlich daran zu erinnern – damit so etwas nie wieder passiert.

"Und was ist mit heute?", werfe ich ein. Längst erinnert der Volkstrauertag ja auch an Kriege in der Gegenwart. Tim schaut mich an. Aber ein anderer meldet sich und erzählt von seinem Cousin, der traumatisiert aus Afghanistan zurückgekommen sei.

Jetzt nickt Tim, – und dann ergreift er das Wort: "Mein Bruder wollte bei der Bundeswehr studieren. Er war als Sanitäter in Afghanistan. Zwei Mal. Er ist durch einen Anschlag getötet worden. Das war vor einem Jahr." – In der Klasse ist es jetzt ganz still. Ich komme ins Stocken. "Was haben Sie gerade gesagt, Tim? Habe ich das richtig verstanden…?"

"Die Nachricht kam damals in der Nacht", erzählt er. "Mein Vater nahm das Telefon ab. Dann haben meine Eltern mich geweckt. Wenige Tage danach wurde mein toter Bruder nach Deutschland überführt. Wir haben ihn in unserem Ort bestattet." – "Und dann war die Trauer groß", fügte mein Schüler leise hinzu.

Niemand kann der Familie diese Trauer abnehmen, die Wut und den Schmerz. Auch nicht der morgige Volkstrauertag. Aber wie schnell fressen Betroffene die Trauer privat in sich hinein. Meinen Schüler etwa quälte die Frage: "Warum ist mein Bruder nur dieses Risiko eingegangen?" Als sei das nur dessen privates Berufsrisiko gewesen. Aber ich finde: Das geht uns doch alle an. Es kann uns als Gesellschaft nämlich nicht egal sein, was mit einzelnen Mitgliedern passiert.

Deshalb trauern wir am Volkstrauertag öffentlich. Das verschafft Distanz. Und die ist wichtig. Wir leisten uns ein öffentliches Nachdenken. Zwischen den Zeilen wird nämlich morgen die bohrende Frage mitschwingen: "Ist der Preis für unsere militärischen Einsätze nicht doch zu hoch?"

Auch Millionen von Christen stellen sich morgen diese Frage, wenn wir in Gottesdiensten für die Opfer von Kriegen weltweit beten. Ich kann von mir nur sagen: Diese Gebete gehen nicht glatt von den Lippen. Weil wir einerseits betroffen sind, andererseits in Krisenregionen verstrickter sind, als uns das lieb ist.

Demgegenüber ist aber die biblische Botschaft gar nicht verstrickt. Sie ist klar und eindeutig und stark:
Schmiedet Schwerter zu Pflugscharen, sucht den Frieden, strebt nach Versöhnung, antwortet auf Gewalt nicht mit Gewalt! Ich jedenfalls komme an dieser klaren Botschaft, gerade morgen am Volkstrauertag, nicht vorbei – als Korrektiv, als Hoffnung und als Zielvorgabe.

Mein Schüler Tim sagte: "Könnte sein, dass mir das hilft: zu wissen, dass so viele Menschen nicht nur mit der Schulter zucken, sondern darüber nachdenken."

Sein Bruder kommt davon nicht wieder zurück. Aber mindestens können wir als Gemeinschaft Trauer miteinander teilen.

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