Das Wort zum Sonntag: "Die Welt, in der er lebt"
Pfarrer Ulrich Haag
28.01.2012 21:25

"Wo du hingehst, da will auch ich hingehen." So lautete ihr Trauspruch und 40 Jahre hatten die beiden in der Stadt gelebt, in der ich als Pfarrer tätig war. Hatten vier Kinder großgezogen. Hatten eine Zeit im Ausland verbracht. Waren mit Beginn des Ruhestands zurückgekehrt und hatten seitdem keinen Gottesdienst verpasst. Dann begann er, Dinge zweimal zu erzählen. Wirkte merkwürdig unsicher, wenn er an der Hand seiner Frau ging. Schließlich sprach er mich mit dem Namen meines längst verstorbenen Vorvorgängers an. Da war ich verunsichert und leicht amüsiert, wollte ihn berichtigen. Sie schüttelte nur den Kopf. Lassen sie ihm die Welt, in der er lebt. Damals habe ich eine Ahnung davon bekommen, was es heißt, jemanden zu begleiten, der an Demenz erkrankt ist: Mitgehen. Hingehen, wo der andere hingeht.

Es ist möglich, dass ich das auch einmal muss. Meinen Vater begleiten. Meine Mutter. Eines meiner Geschwister. Den Menschen, den ich liebe. Ich fürchte mich davor. Ich fürchte, dass ich dem nicht gewachsen bin. Wie schwer ist es allein, die ersten Anzeichen der Krankheit zu erkennen. Sie richtig zu deuten. Die Übersicht zu behalten, wenn plötzlich Gegenstände verschwinden und der andere behauptet, ich hätte ihn bestohlen. Ihn zu trösten und in den Arm zu nehmen, in den Augenblicken, in denen er sich seines Zustandes noch einmal bewusst wird.

Wie schwer ist es, zu verstehen und anzunehmen, dass da jemand immer weniger wird, obwohl er körperlich doch da ist. Die Mutter, die immer alle willkommen geheißen hat und nun nicht einmal mehr die Namen der eigenen Kinder weiß. Der Mann, der im Glauben fest verwurzelt stand und nun nicht einmal mehr das Vaterunser zusammenbekommt.

Wie schwer ist es, mit der Krankheit richtig umzugehen, nein, mit den Menschen richtig umzugehen, liebevoll. "Lassen Sie ihm die Welt, in der er lebt." Das heißt: "Lassen Sie sich auf das ein, was er sieht. Gehen sie ein Stück mit ihm. Gehen Sie mit ihm zurück in den Abschnitt seines Lebens, in dem er sich gerade befindet." Viele Geschichten erzählen davon, dass das funktioniert. Von der 94jährigen, die sich in ihre Kindheit zurückversetzt fühlt und Sorge hat, morgens zu spät zur Schule zu kommen: "Heute ist doch schulfrei, Frau Meier, da können wir in Ruhe frühstücken." Von dem ehemaligen Vorstandsvorsitzenden, der sich weigert, sich für einen Arztbesuch stadtfein anziehen zu lassen: "Herr Müller, bitte lassen Sie sich zurecht machen, die Herren warten schon." Geschichten, die zum Lachen sind und zum Weinen zugleich. Die aber vor allem Hoffnung wecken, dass es möglich ist, mit zu gehen. Zumindest ein Stück weit. Und noch ein Stück weiter, wenn man nicht allein geht.

Irgendwann, es ist nicht ausgeschlossen, kann es sein, dass auch mich eine solche Krankheit einholt. Dann hoffe ich, dass jemand da ist, der den Weg auch mit mir geht. Der in mir noch immer den Mann erkennt, der ich einmal war, dann aber nicht mehr bin. Der mich langsam mit einem Löffel Himbeereis füttert, weil mich das an die Sommer meiner Kindheit erinnert. Und der mit mir das Vaterunser betet. Damit in mir das gegenwärtig wird, was ich bewusst vielleicht gar nicht mehr weiß. Dass da nämlich einer ist, der einmal alles Verlorene wiederbringt. Und mitgeht – auch dorthin, wo Menschen mich nicht mehr begleiten können.

Ihnen allen einen guten Abend und eine gesegnete Woche.
 

Sendeort und Mitwirkende

(WDR)
Pfarrerin Petra Schulze

Die evangelische Rundfunkbeauftragte beim WDR
Kaiserswerther Straße 450
40474 Düsseldorf
Fax: 0211/ 45 30 430
schulze@rundfunkreferat-nrw.de

 

Redaktion: Martin Blachmann (WDR)