Das Wort zum Sonntag: "Blinde sehen"
Pfarrer Michael Broch
06.04.2013 21:55

"Ich bin überrascht, wie Ihre Sehkraft in kurzer Zeit stark nachgelassen hat" – das hat der Augenarzt zu mir gesagt. Die Diagnose hat es bestätigt. – Dann die Unsicherheit vor der Operation. Kann man diesen Prozess noch aufhalten? Wird das wieder einigermaßen gut? Oder werde ich möglicherweise auf einem Auge blind? – Dank moderner Medizin kann ich nach drei Operationen für mein Alter wieder erfreulich gut sehen. Dafür bin ich sehr dankbar. Was da heute erreicht wird, damit Menschen wieder sehen können – das grenzt für mich an Wunder.

 

Ein Wunder in der Bibel sehe ich seitdem mit anderen Augen. Es steht im Markus Evangelium. Vom blinden Bettler Bartimäus wird erzählt. Mit letzter Kraftanstrengung und allen, die ihn daran hindern wollten, zum Trotz, versucht er, an Jesus heranzukommen. Wenn ihm einer helfen kann, dann: Jesus. Ihm zu begegnen, darin sieht er die Chance seines Lebens, wieder sehen zu können. Und so geschieht es. Bartimäus kann wieder sehen. Dass er vertraut hat und so an seiner Heilung mitgewirkt hat – das bestätigt ihm Jesus, wenn er zu ihm sagt: "Geh! Dein Glaube hat dir geholfen." Aber nicht nur das. Er ist ein anderer Mensch geworden. Sein ganzes Leben sieht er neu. Es heißt, dass er bei Jesus geblieben und sein Jünger geworden ist. (Markus 10,46-52)

 

Mich bewegt diese Geschichte heute anders als früher. Ich kann besser mitfühlen, denke ich an die Blinden hier, die blind geboren oder für immer erblindet sind. Ich kann von ihnen lernen, in meinem Innern mehr und tiefer wahrzunehmen. Vielleicht muss ich als Sehender manchmal die Augen schließen, um besser sehen zu können.

 

Ich denke an die sehbehinderten und blinden Menschen in den Armenhäusern der Welt, die keine Chance haben, geheilt zu werden. Es fehlt dort an den medizinischen Voraussetzungen. Die meisten haben kein Geld für Operationen, die ihnen mit oft einfachen Mitteln die Sehkraft wiedergeben könnten.

 

Ich denke aber auch an uns, die sogenannten Sehenden. Vielleicht bin ich als Sehender manchmal meiner Blindheit nicht bewusst. Ist es oft nicht wenig, was ich sehe? Wenn ich verstockt bin, innerlich zu. Wenn ich äußerlich zwar hin sehe, aber kaum mehr etwas wahrnehme. Und wie sehe ich bisweilen? So oberflächlich, dass ich nicht einmal die leuchtenden Osterglocken wahrnehme oder die fragenden Augen eines Kindes, den Hilfe suchenden Blick meines Nächsten.

 

Ich denke wieder an die Menschen, für die Blindsein endgültig ist. Das muss aber nicht ihr ganzes Wesen und ihre Existenz ausmachen. Ich wünsche ihnen, dass sie über die Welt und die alltägliche Wirklichkeit hinaus schauen können. Und ich halte auch das für möglich: Wer nie das Licht der Welt gesehen hat – der kann vielleicht tief innen ein großes Licht schauen.

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