Hunger nach Leben
Pfr. Stefan Claaß
23.10.2010 21:55

Auf meinem Regal stehen Bilder von Menschen, die mir wichtig sind. Auch wenn ich sie nicht persönlich kenne. Wie diesen Fischer aus Kenia. Ich kenne seinen Namen nicht, aber ich weiß, dass er jeden Tag ums Überleben kämpft. Gegen den Hunger.

Sein Bild steht neben dem von meinen Kindern. Und neben dem von Ariel Tocona aus Chile, der vorletzte Woche aus dem Bergwerk gerettet worden ist. Mich hat beeindruckt, wie viele Menschen sich weltweit mit ihm gefreut haben und Anteil genommen haben an seinem Leben.

Etwas Ähnliches wünsche ich diesem Fischer aus Kenia. Dass sich andere Menschen für sein Gesicht und seine Geschichte interessieren. Seine Geschichte ist eine von Hunderttausenden. Er fährt in einem schlichten Boot raus auf den See, um Fisch zu fangen. Auch wenn es seit etlichen Jahren kaum noch etwas zu fangen gibt.
Er weiß, was Hunger ist. Seine Familie weiß es. Wir könnten es wissen, aber wir achten selten darauf. Und doch haben wir Anteil an seinem Leben. Die Fische aus seinem See sind nach industrieller Verarbeitung auf unseren Tellern gelandet.

Andererseits haben wir durch Entwicklungshilfe und durch unsere Spenden Menschen in Kenia beim Überleben geholfen. Auch wenn es weit weg scheint: Wir haben Anteil an seinem Leben.

Von Hungertoten hören wir meist nur durch Statistiken. Jedes Jahr verhungern 10 Millionen Menschen. Was sollen wir mit so einer Zahl anfangen? Ich kann mir ausrechnen, dass jeden Tag siebzig vollbesetzte Flugzeuge abstürzen müssten, um auf so eine Zahl zu kommen. (Das will ich mir gar nicht vorstellen.)

Auf der anderen Seite will ich nicht einfach wegschauen und verdrängen. Ich weigere mich, mich daran zu gewöhnen. Der erste Schritt in schwieriger Lage heißt immer: Aushalten! Hinschauen!

Der zweite Schritt: Kann ich mehr tun als nur Aushalten? Ich beobachte bei anderen und bei mir selbst zwei unterschiedliche Denkweisen. Die eine sagt: Ja, aber. Ja, es ist wichtig, das Thema "Hunger" in der Welt nicht zu verdrängen, aber was können wir schon dagegen tun? Ja, wir sehen unsere Anteile, aber die Ursachen für Hunger sind so vielfältig und kompliziert. Die andere Möglichkeit zu denken und zu leben heißt: Trotzdem! Ich weiß, dass ich wenig tun kann: trotzdem tue ich es. Ich kann hinschauen, mich informieren, ich kann spenden und beten. Ich kann fair einkaufen. Andere winken ab? Ich sage: Trotzdem!

Gott schenkt uns weltweit 10% mehr Lebensmittel als notwendig, um alle Menschen auf der Erde zu ernähren. "Du tust deine Hand auf und sättigst alles, was lebt, nach deinem Wohlgefallen" heißt es in einem Psalm. Diese Wahrheit muss uns unruhig machen, uns antreiben. Persönlich und politisch. Dafür brauche ich konkrete Menschen vor Augen. Wie diesen Fischer aus Kenia. Sein Bild erinnert mich daran, dass Gott mehr unter Familie versteht als wir. Und wenn jemand sagt: Du kennst diesen Fischer doch gar nicht! Dann sage ich: Trotzdem!