Mit der Gerechtigkeit ist es wie mit dem Wetter. Es gibt gemessene Temperaturen und gefühlte Temperaturen. So gibt es vor Gericht juristisch begründete Urteile und gefühlte Gerechtigkeit. Und manchmal klafft dazwischen eine große Lücke.
Wenn wir das Gefühl einer solchen Gerechtigkeitslücke haben, weckt das heftige Emotionen. Wir wollen, dass es gerecht zugeht, dass Täter bestraft werden und Opfer ihr Recht bekommen. Darum schwingen wir uns selbst manchmal zu Richtern auf. Nächste Woche wird das vermutlich wieder passieren. Dann sitzen wir öffentlich zu Gericht über intime Details im Leben von Jörg Kachelmann und seiner früheren Freundin.
Wir wissen zwar nicht, was Jörg Kachelmann getan hat oder nicht. Aber es ist schon erstaunlich, wie viele Menschen sich ein Urteil bilden, obwohl sie weder ihn noch sie kennen oder je gesprochen haben. Es geht heiß her, die gefühlte Gerechtigkeitstemperatur sieht fast schon aus wie eine Fieberkurve. Als fiebersenkendes Mittel schlage ich vor, bei der heilsamen Praxis zu bleiben, unsere Rechtsprechung an kundige Gerichte zu delegieren.
Öffentliche Pranger und Vorverurteilungen schaden allen Beteiligten. Anklage und Verteidigung gehören in den Gerichtssaal und nicht auf den Marktplatz. Dort standen auch schon im Mittelalter die Pranger.
Auf der anderen Seite dürfen wir von unseren Gerichten nicht zu viel erwarten. Sie sollen über Taten und Motive befinden. Aber weder die Gerichte noch wir als Öffentlichkeit können Urteile über das Leben eines Menschen fällen. Das steht uns nicht zu, zumal wir andere und uns selbst meist mit zweierlei Maß messen. So wie Gerhard Polt einmal sehr treffend gesagt hat: "Dass meine Nachbarin so nachtragend ist, das vergess ich ihr nie!"
"Mit welchem Maß ihr messt, werdet ihr auch selbst gemessen", warnt Jesus in der Bergpredigt. Über das Leben Anderer zu richten ist damit ganz schön gefährlich. Wenn Menschen mit Fragen oder Urteilen über andere zu Jesus kamen, hat er sie zuerst einmal auf sich selbst schauen lassen. Ein junger Mann war reich und wollte sein Leben ganz Gott anvertrauen. Jesus hat ihm geholfen, seinen eigenen Zwiespalt zwischen Besitz und Glauben zu erkennen. Mit einem korrupten Erpresser hat er – gegen öffentliche Kritik – gegessen. Und bewirkt, dass jener den angerichteten Schaden wieder gut gemacht hat.
Vor unseren Gerichten müssen wir dazu stehen, was wir verbrochen haben. Vor Gott müssen wir zu allem stehen, wie wir leben, was wir getan und was wir unterlassen haben. Aber wir können darauf bauen, dass Gott gemessene und gefühlte Gerechtigkeit wirklich zusammenzubringt, gleichzeitig gerecht und barmherzig ist.
Gott vollendet, wovon wir unser Leben lang träumen: dass jemand unserem ganzen Leben gerecht wird, unserem Leid und unserem Glück, unseren Wohltaten und unseren Untaten. Von der Justiz erwarte ich ein sorgfältig abgewogenes und möglichst faires Urteil. Gott traue ich zu, dass er Jörg Kachelmann und seiner früheren Partnerin gerecht wird. So wie Ihnen und mir.
Der Anfang ist gemacht
18.09.2010, Das Wort zum Sonntag, Pfr. Stefan Claaß
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