Gegen den Strom
Pfr. Stefan Claaß
30.10.2010 21:55

Mehr Religion bringt mehr Streit und Konflikte in unsere Gesellschaft. So denkt die Mehrheit der Befragten in einer aktuellen Untersuchung. Aber ist Streit nur negativ? Ich glaube, es kommt darauf an, wie man streitet. Übel und erbärmlich finde ich es, wenn Religion dazu missbraucht wird, andere zu bevormunden, zu manipulieren und gering zu schätzen.

Positiv erlebe ich, wenn Gewissen und Glaubensüberzeugung uns dazu bringen, für die Würde von Menschen und Schöpfung einzustehen. Ich glaube sogar: Es gibt Situationen, in denen wir um Gottes willen Streit anzetteln müssen!

Mutige Antworten auf Zukunftsfragen finden wir nicht immer in glatten Mehrheitsentscheidungen. Tun, was alle tun, denken, was alle denken, das kann auch verhängnisvoll sein. Hinterher sind wir oft dankbar für die, die gegen den Strom geschwommen sind.

In der DDR zum Beispiel, als es noch die Zukunft gekostet hat, eine eigene Meinung zu vertreten oder sich zu seinem Glauben zu bekennen. Oder in Fragen der Ökologie, der Bewahrung der Schöpfung. Heute ist es ein breiter Strom der Einsicht – vor vierzig Jahren sind Herbert Gruhl, Hermann Scheer, Petra Kelly und andere Einzelkämpfer gewesen für ökologisches Bewusstsein und gegen massenhaftes Verbrauchen unserer natürlichen Lebensgrundlagen. Wie gut, wenn einige Menschen immer wieder gegen den Strom schwimmen. Ja, wer zur Quelle will, muss gegen den Strom schwimmen.

Vor 500 Jahren sind Martin Luther und andere diesem Aufruf unter Humanisten und Querdenkern gefolgt: Ad fontes! Zu den Quellen! Was ist der Ursprung christlichen Glaubens und Lebens? Im Lauf der Jahrhunderte hatte sich eine Menge an Traditionen, religiösen Zwängen und Manipulationen angesammelt wie in einem großen Strom. Die Frage war: was stammte wirklich aus der Quelle Gottes und was aus menschlichen Fantasien? Damals hat das Schwimmen gegen den Strom in der Tat Streit und schwere Konflikte in die Gesellschaft gebracht. Aber langfristig haben Katholiken und Protestanten von dieser Flussbereinigung profitiert. Tragischerweise ist das verhängnisvolle Verhalten gegenüber den Juden nicht erkannt und bereinigt worden.

Darum ist neben dem Suchen und Finden die dritte Eigenschaft des Glaubens so wichtig: das Zweifeln. Wenn Glaube nicht aus meinen eigenen Wünschen resultiert, sondern aus der Quelle Gottes stammt, dann muss er mich immer wieder dazu bringen, mich selbst in Frage zu stellen.

Wenn man mich gefragt hätte, ob ich mir mehr Religion in unserer Gesellschaft wünsche, dann hätte ich gesagt: Wenn sie mir hilft, unsere Lebensgewohnheiten in Frage zu stellen, dann schon. "Wenn sie uns nicht auf unsere Fehler festnagelt sondern uns hilft, zu vergeben, dann schon. Wenn sie uns andere Wertmaßstäbe schenkt als Geld, dann schon". Dann vertraue ich darauf, dass wir dem näher kommen, was Jesus Christus verheißen hat: Selig sind, die hungern und dürsten nach Gerechtigkeit, sie sollen satt werden.

Ich wünsche Ihnen ein gesegnetes Reformationsfest!