Der verhüllte Mensch

Der verhüllte Mensch
Pfarrer Gereon Alter
13.06.2020 - 23:35

 

Das Wort zum Sonntag: 13.06.2020

Sprecher: Pfarrer Gereon Alter, Essen

Der verhüllte Mensch

Heute wären sie beide 85 geworden. Sie sind tatsächlich an ein und demselben Tag zur Welt gekommen: Christo und Jeanne-Claude. Das großartige Künstlerehepaar, dass uns auf so wunderbare Weise geholfen hat, Dinge neu zu sehen – einfach dadurch, dass die beiden alles Mögliche und scheinbar Unmögliche verhüllt haben: Dosen, Flaschen, Stühle, Autos, Parkwege, Schluchten, Küstenstreifen, die Pont Neuf in Paris und den Reichstag in Berlin. "Löst euch mal von der gewohnten Sicht! Schaut etwas genauer hin! Entdeckt, was unter der Oberfläche liegt!". So schallte es aus all ihren Kunstaktionen.

Was würden die beiden wohl heute verhüllen? Was bräuchte aktuell einen schärferen Blick? Ich hätte da eine Idee: Ich glaube, wir täten gut daran, einmal den Menschen zu verhüllen! Damit wir unser Urteil über ihn nicht allzu sehr an Äußerlichkeiten festmachen. An seiner Hautfarbe, seiner Herkunft oder seinem Beruf. Würden wir den Menschen verhüllen, könnten wir nicht mehr sehen, ob er eine helle oder dunkle Hautfarbe hat. Ob er wie ein Drogendealer aussieht oder wie ein Polizist. Wir könnten nur noch hören, was er sagt, und sehen, was er tut.

Der verhüllte Mensch. So paradox es klingt: Wir würden ihn besser sehen. Nicht getrübt durch die Linse unserer Mutmaßungen und Vorurteile, sondern etwas mehr, wie er wirklich ist. Und das könnte gerade in diesen Tagen ungemein hilfreich sein. Im Blick auf die große Rassismus-Debatte, die wir gerade weltweit haben, wie auch auf so manch alltägliches Fehlurteil, das uns unterläuft – mir zumindest.

Mir ist es schon häufiger passiert, dass der erste Eindruck eines Menschen mich getäuscht hat. Manchmal kann er hilfreich sein. Viel häufiger aber erlebe ich, dass er mich auf eine falsche Fährte führt. Denn der Mensch ist immer mehr als die Summe seiner Äußerlichkeiten. Er hat eine Geschichte, er hat ein Herz und er hat in aller Regel auch einen guten Willen.

Das wieder neu sehen zu lernen – dazu hat schon der Apostel Paulus aufgerufen: "Ihr unvernünftigen Galater, wer hat euch verblendet?" ruft er einer Gemeinde zu, die sich in einem Streit über Äußerlichkeiten verheddert hat. "Es gibt nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht männlich und weiblich; ihr alle seid einer in Christus Jesus."

Man muss das christliche Bekenntnis dieses Mahnrufs nicht teilen, um zu erkennen, dass wir Menschen doch etwas gemeinsam haben, das tiefer liegt als alle äußerlichen Unterschiede. Wir alle sehnen uns nach Liebe. Wir wollen Friede und Gerechtigkeit.

Wir streben nach einer besseren Welt. Die Art und Weise, wie wir das tun, kann sich mitunter sehr unterscheiden. Aber im Grunde sind wir doch auf einem ganz ähnlichen Weg unterwegs.

Das wieder mehr in den Vordergrund unserer Wahrnehmung zu rücken, das hielte ich für ein lohnendes Experiment. Durch Verhüllung? Ja, warum eigentlich nicht? Denn zumindest teilverhüllt laufen wir ja gerade alle herum – mit einer Maske im Gesicht. Ich kann in dieser Maske nur einen ziemlich unbequemen Hygieneartikel sehen – oder aber eine Erinnerung daran, doch mal etwas genauer hinzusehen und zu entdecken, was sich hinter der Oberfläche verbirgt. Hinter dem ersten Eindruck und dem gewohnten Urteil.

Vielleicht ist es ja ganz einfach ein freundlicher und liebenswerter Mensch.