Leben vor dem Tod
mit Pfarrerin Annette Behnken aus Loccum
20.11.2021 23:50

Bei uns im Dorf, gegenüber dem Drogeriemarkt, steht ne Sitzbank. Und auf der steht seit ein paar Tagen eine Laterne mit ‚ner brennenden Kerze und eine Vase mit weißen Rosen. Jemand hat mit schwarzem Edding auf das Glas der Laterne geschrieben: Der alte Mann mit dem Hund. Der saß da. So oft, dass ich manchmal dachte, er lebt da auf der Bank. Mit seinem weißen Bart und zauseligen weißen Haaren, immer irgendwelche Tüten oder Beutel dabei. Und seinem Hund. Der alte Mann mit dem Hund gehört zum Dorf dazu. Wie er in seinen Tüten wühlt, mit seinem Hund redet, Passanten anspricht, egal, ob er sie kennt oder nicht. Manchmal war er motzig. Und manchmal ungeheuer zuvorkommend. Er gehört zum Dorf. Immer noch. Und irgendjemand zündet die Kerze in der Laterne immer wieder an.

Der November gehört den Toten. Das klingt in diesem November brutaler als sonst. >>> Brutaler, seit Corona in der Welt ist. Jeden Tag sind es mehr, die sterben. Und jeder einzelne fehlt. Egal, woran er starb, egal, wie alt.

Die Kerzen und die Blumen auf der Bank bei uns im Dorf fassen mich sehr an. Weil sie zeigen, dass jemand traurig ist. Und dem Tod einen Platz gibt mitten im Ort und mitten im Leben. Den Tod, den ich nicht wahrhaben will, keinen einzigen. Den Tod, den wir eigentlich aus unseren Leben heraushalten wollen. Aber es gibt Zeiten, in denen das nicht geht.

Schon immer bedroht der Tod unseren Lebensmut ganz grundsätzlich. In biblischen Zeiten und davor. "Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden". Sagt die Bibel. Es steckt Weisheit darin, wenn Religionen und Kulturen sagen, dass es klug ist, das Sterben und den Tod ins Leben zu lassen, das zu meditieren, zu bedenken, oder zu feiern in bunten, ausgelassen Festen, wie in Mexiko am Dia de los Muertos, dem Tag der Toten. Totensonntag heisst es bei uns und Allerseelen und Ewigkeitssonntag. Tage, die die Kirchen für das Gedenken unserer Toten vorsehen. Nicht, weil wir nicht auch im Mai und im Juni an sie denken – … Aber an diesen Tagen im November wissen wir, dass das Viele machen. Die Gräber ihrer Lieben besuchen, Kerzen anzünden. Dem Tod Platz machen im Leben. Wenigstens für einen Moment.

Bedenken, dass wir sterben müssen. Das kann, aber muss nicht auf Friedhöfen passieren. Einer hat es anders gemacht und in diesem Jahr einen Nachruf auf sich selbst geschrieben. Der Soziologe Harald Welzer, nach einer schweren Krankheit. Er wollte sich selbst die Frage beantworten: Wer will ich gewesen sein? Er zeigt, wie aus der Perspektive des Endes deutlich wird, wie kostbar Leben ist. Weil sie begrenzt ist, unsere Lebenszeit, ist sie kostbar. >>> Aus dieser Perspektive, vom Ende her ergibt Vieles überhaupt erst Sinn. Die Liebe zu einem und zwar genau diesem einen Menschen – wäre die so kostbar, wenn wir ewig lebten? Oder: Wären wir behutsam mit dem Leben, wenn es ewig wäre? Und sind wir es vielleicht deshalb nicht, weil wir vergessen, dass nichts ewig ist. Und nichts unbegrenzt vorhanden. Der Respekt vor einem alten Mann und seinem Hund  - hätten wir den, wenn das Leben ewig wäre? Und was zerbrechlich ist und was zerbrochen ist: Können wir das liebevoll ansehen, wenn wir ewig und ewig und ewig lebten? Oder: Zufälle! Haben Zufälle einen Zauber, wenn alles ewig ist? Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden.

Auch dafür stehen die Rosen und die Laterne auf der Bank bei uns im Dorf. Für all das. Aber vor allem und zuallererst für den alten Mann mit dem Hund.

 

Sendeort und Mitwirkende

Norddeutscher Rundfunk (NDR)

Redaktion: Eberhard Kügler