Lichter auf dem Friedhof
Es ist Herbst und es ist kalt geworden. Während ich fröstelnd auf dem Heimweg bin, merke ich, wie früh es jetzt dunkel wird. Die Bürgersteige in Berlin sind natürlich gut beleuchtet. Aber kurz bevor ich zu Hause bin, führt mich mein Weg noch über einen alten Schöneberger Friedhof. Zunächst ist es hier stockfinster. Erst nach und nach gewöhnen sich meine Augen an die Dunkelheit und ich bemerke die vielen kleinen Windlichter, die auf den Grabsteinen stehen und mir doch etwas Orientierung geben. Ein schöner Brauch, denke ich noch, und stehe schon wieder auf der hell erleuchteten Hauptstraße.
In diesen Tagen erinnern sich Menschen in christlichen Traditionen an ihre Toten. Das katholische Fest Allerseelen, der evangelische Totensonntag, auch Ewigkeitssonntag genannt, sind für viele Anlass, noch einmal an Menschen zu denken, die früher Teil ihres Lebens waren. Bevor in der nächsten Woche das Kirchenjahr mit dem 1. Advent wieder „durchstartet“, nimmt man sich Zeit und blickt zurück. Vielleicht um (wieder) Abschied zu nehmen. Vielleicht um anzuerkennen was gewesen ist, das Gute wie das Schlechte. Vielleicht aber auch um einen klaren Blick für die Zukunft zu bekommen.
Mose sieht die Zukunft
Der letzte Abschnitt der Tora, der 5 Bücher Mose, die in jüdischen Gottesdiensten einmal im Jahr komplett gelesen werden, handelt vom Tod des Mose. Nachdem er sein Volk aus Ägypten geführt und 40 Jahre lang die Wüste durchwandert hat, steht er mit Israel nun kurz davor, in das von Gott verheißene Land zu ziehen. Doch Mose selbst wird das nicht mehr erleben. Nachdem er einen Blick auf das Land geworfen hat, das Israels Zukunft ist, verabschiedet er sich von seinem Volk und stirbt allein. Gott selbst begräbt ihn, kein Mensch weiß wo. 30 Tage trauern die Israeliten um ihren Anführer, dann ziehen sie weiter, über den Jordan. So endet die heilige Schrift der Juden – mit einem Abschied und einem Aufbruch.
Denn auch wenn Moses Geschichte hier ihren Abschluss findet, die Geschichte Israels setzt sich fort mit Josua, seinem Nachfolger. Mose geht nicht über den Jordan. Und doch bleibt er in seinem Volk präsent. Er hat einen Nachfolger. Er hat seine Mitmenschen geprägt. Er hat Ereignisse in Gang gesetzt, die weit über sein Leben hinaus gehen. Da steckt erstaunlich viel Zukunft drin, in dieser Geschichte von einem Lebensende.
Erinnern mit Blick für die Zukunft
Ein Abschied tut zunächst weh. Wenn am Ewigkeitssonntag in vielen Kirchen die Namen von diesjährig Verstorbenen vorgelesen werden und man ihrer gedenkt, dann wird das auch Schmerz bei Angehörigen und Freunden auslösen. Diesem Schmerz muss sich jeder Mensch einmal stellen. Und ihn aushalten. Gemeinsam den Verlust beklagen und sich gegenseitig an das Leben der Verstorbenen erinnern gehört zu einer gesunden Trauerkultur.
Dabei muss es nicht nur um die eigene Geschichte gehen, um das was Einzelne mit den Verstorbenen verbindet. Die Geschichte von Mose zum Beispiel hält immer eine gewisse Spannung: Mose wird in seinen persönlichen Eigenheiten geschildert, aber es gibt keinen Personenkult. Seine Geschichte ist untrennbar mit der Geschichte seines Volks verbunden. Es ist fast so als wollte die jüdische Tradition sagen: Seht her, so viel Mose steckt in uns. Das geht weit hinaus über ein Menschenleben.
Das Leben geht weiter für die Trauernden - und für alle anderen. Es gibt neue Aufgaben, neue Herausforderungen. Die Welt hat sich verändert. Gleichzeitig trägt diese Welt aber auch die Spuren derer, die vor uns lebten. Unsere Gegenwart und unsere Zukunft bleiben geprägt von ihnen. Manchmal vergesse ich das.
Dann ist es gut, wenn ich mich durch eine Tradition, die Menschen lange vor mir geschaffen haben, daran erinnern lasse. Eine eher leise, unscheinbare Tradition. Vielleicht ein paar kleine Lichter auf einem Friedhof im Herbst. In der jüdischen Tradition folgt nach der Lesung vom Ende des Mose wieder die vom Beginn der Welt am Anfang des ersten Buchs. Und in der christlichen Tradition gibt es einen ähnlichen Zusammenhang vom Anfang nach dem Ende: nächste Woche wird der erste Advent gefeiert.